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Prekäre Finanzlage : Klamme Kassen

Auf 17 Milliarden Euro wird das Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherung für 2023 geschätzt. Die Bundesregierung hält mit einem Reformgesetz dagegen.

26.09.2022
2024-05-07T12:58:58.7200Z
5 Min
Foto: picture-alliance/Zoonar/stockfotos-mg

Die gesetzlichen Krankenkassen stehen finanziell unter Druck. Versicherte müssen im kommenden Jahr mit höheren Beiträgen rechnen.

Es ist ein paar Jahre her, da schwärmte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sinngemäß, wie angenehm es sei, in Zeiten des Überflusses Reformgesetze zu beschließen. Lange vorbei seien die Zeiten, als Anfang der 2000er Jahre in der Gesundheitspolitik habe gespart und sogar an Leistungen gekürzt werden müssen. Diese Feststellung Spahns ist überholt, inzwischen hat sich der Wind gedreht und kommt stürmisch von vorn.

Geld ist auch wegen der überbordenden Ausgaben während der Corona-Pandemie knapp, die Gesundheitsausgaben steigen sowieso permanent, die Kassenrücklagen sind bereits stark ausgedünnt, und jüngst werden die Gesundheitseinrichtungen mit der größten Energiekrise aller Zeiten konfrontiert, was die Kosten zusätzlich in die Höhe treibt.

Von Krankenkassen kommen konkrete Forderungen nach einer kostendeckenden Finanzierung der Beiträge für ALG-II-Bezieher, einem reduzierten Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel sowie Strukturreformen bei Krankenhäusern und in der Pflege. Allein durch die Unterdeckung der ALG-II-Beiträge gehen den Kassen nach eigenen Angaben jährlich rund zehn Milliarden Euro verloren.

2023 steigen die Beiträge für Versicherte

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur finanziellen Stabilisierung der GKV sind diese Reformpunkte nicht enthalten, dafür ein ganzer Strauß an anderen Regelungen. 2023 müssen sich die Versicherten auf einen um 0,3 Prozentpunkte höheren Zusatzbeitrag einstellen. Der Bundeszuschuss für den Gesundheitsfonds soll um zwei auf 16,5 Milliarden Euro erhöht werden. Ferner will der Bund der GKV ein unverzinsliches Darlehen in Höhe von einer Milliarde Euro gewähren. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen sich dafür an der Stabilisierung der Beitragssätze beteiligen. Dazu werden die Liquiditätsreserven weiter abgeschmolzen. Auch die Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds soll halbiert werden.


Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)
Foto: BMG/Jan Pauls
„Wir müssen in einer solchen Zeit zusammenhalten.“
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)

Der Gesetzentwurf beinhaltet Sparvorgaben. So soll die extrabudgetäre Vergütung vertragsärztlicher Leistungen bei sogenannten Neupatienten abgeschafft werden. Geplant ist auch eine Begrenzung des Honorarzuwachses für Zahnärzte. Für 2023 ist ferner ein um fünf Prozentpunkte erhöhter Herstellerabschlag insbesondere für patentgeschützte Arzneimittel eingeplant. Das Preismoratorium für Arzneimittel wird bis Ende 2026 verlängert. Der Apothekenabschlag zugunsten der Krankenkassen wird von 1,77 Euro auf 2 Euro je Arzneimittelpackung erhöht, auf zwei Jahre befristet. Vorgesehen sind überdies angepasste Regelungen für die Erstattungsbeträge im Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG).

Lauterbach will Lasten besser verteilen

In der ersten Beratung des Gesetzentwurfs am vergangenen Freitag hagelte es Kritik der Opposition. Der Gesetzentwurf sei nicht geeignet, die Finanzprobleme der GKV nachhaltig zu lösen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erinnerte daran, dass die jetzige Koalition das "historisch" hohe Defizit in der GKV von seinem Amtsvorgänger geerbt habe. Der Minister verzichtete dennoch auf Kritik an dem früheren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), sondern hob stattdessen hervor, dass auf keinen Fall Leistungen für die Versicherten gekürzt würden. Dies wäre den Menschen in einer Zeit hoher Belastungen nicht zuzumuten. Lauterbach betonte: "Wir müssen in einer solchen Zeit zusammenhalten."

Mit dem Gesetz würden Effizienzreserven gehoben. Der Minister verteidigte in dem Zusammenhang die geplante Abschmelzung der Finanzreserven der Krankenkassen. Die Kassen hätten unterschiedlich hohe Rücklagen, dadurch werde der Wettbewerb verzerrt. Es sei daher richtig, die Rücklagen zurückzuführen und der Versorgung zuzuführen. Es sei auch richtig, die Preise für Arzneimittel neu zu regulieren. Derzeit würden hohe Arzneimittelpreise zu lange gewährt. Lauterbach wertete das Gesetz als Übergangsreform, da langfristig eine Strukturreform nötig sei, an der bereits gearbeitet werde.

Union fordert Pharmadialog

Mit heftiger Kritik reagierte der bayerische Minister für Gesundheit und Pflege, Klaus Holetschek (CSU), auf die Rede Lauterbachs. In der GKV stelle sich die Finanzierungsfrage an allen Fronten. Der Landesminister sprach im Bundestag von einem "Versorgungsdestabilisierungsgesetz", das zudem mehr die Handschrift des Justiz- und Finanzministers trage als die des zuständigen Gesundheitsministers.

GKV-Finanzstabilisierungsgesetz

🩺 Der variable Zusatzbeitrag für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung soll 2023 steigen, voraussichtlich um 0,3 Prozentpunkte im Schnitt.

💵 Der Bundeszuschuss an den Gesundheitsfonds wird um zwei auf 16,5 Milliarden Euro erhöht. Ferner will der Bund der GKV ein unverzinsliches Darlehen von einer Milliarde Euro gewähren.

💰 Die Liquiditätsreserven der Krankenkassen werden weiter abgeschmolzen. Auch die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds wird reduziert.



Holetschek warnte Lauterbach: "Sie steuern auf einen Kassen-Crash zu." Es reiche nicht aus, Reformen anzukündigen, sie müssten schnell vorgelegt werden. Als Beispiel nannte er die Kassenbeiträge des Bundes für die ALG-II-Bezieher, die auskömmlich sein müssten. Der um zwei Milliarden Euro höhere Zuschuss des Bundes für den Gesundheitsfonds sei zu gering. Zudem würden die Krankenkassen abgeschöpft, das sei kontraproduktiv. Die Streichung der extrabudgetären Vergütung der Ärzte für Neupatienten laufe auf eine Leistungskürzung hinaus, weil die Wartezeiten etwa in der Psychotherapie ohnehin problematisch seien. Er forderte außerdem einen Pharmadialog, um zu verhindern, dass der Innovationsstandort Deutschland kaputt gemacht werde.

Grünen-Abgeordnete nennt Finanzreform "Übergangslösung"

Die Grünen-Abgeordnete Maria Klein-Schmeink sprach der Union im Gegenzug das Recht ab, mit ihrer Kritik allein auf die jetzige Koalition zu deuten. Was Holetschek an Defiziten aufzähle, sei ein Offenbarungseid für 16 Jahre Unions-Gesundheitspolitik. "Sie sind jede Antwort schuldig geblieben, wie sie mit dem Defizit umgehen wollen." Klein-Schmeink räumte ein, dass die geplante Finanzreform nur eine Übergangslösung sein könne. An einer Strukturreform gehe kein Weg vorbei.

Die AfD-Fraktion beschuldigte die Bundesregierung, fatale Entscheidungen zulasten der eigenen Bürger zu treffen. Martin Sichert (AfD) rügte, Menschen aus der Ukraine dürften auf Kosten der deutschen Beitragszahler Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen, während vielen Krankenhäusern die Insolvenz drohe und Bürger massenhaft in die Armut getrieben würden. Sichert befand: "Diese gesamte Politik ist irre."

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Nach Ansicht von Andrew Ullmann (FDP) kann die GKV-Finanzreform nur ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer grundlegenden Strukturreform. "Wir haben ein teures, aber wenig effizientes System." Daher müssten die Strukturen verändert werden, um die Kosten im Griff zu behalten.

Die Linke vermutet, dass die Finanzprobleme in der GKV noch viel größer sind als von der Regierung dargestellt. Ates Gürpinar (Linke) bezweifelte, dass es um ein Defizit von 17 Milliarden Euro gehe. Die Schätzung liege niedrig, manche Experten gingen eher von 24,6 Milliarden Euro aus, und das sei vor der Energiepreisexplosion gewesen.