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Demokratie und Einheit : Demokratiegeschichte von unten

Die Historikerin Christina Morina hat ein bemerkenswertes Buch über das Verhältnis der Deutschen in Ost und West seit den 1980er Jahren geschrieben.

14.10.2023
2024-02-06T14:03:06.3600Z
2 Min

Ausgerechnet in jenem Teil Deutschlands, in dem sich die Menschen vor rund 30 Jahren die Demokratie selbst erkämpften, schneidet eine Partei wie die AfD bei Wahlen überproportional besser ab und hat das Vertrauen in demokratische Institutionen deutlich mehr Schaden genommen als im Westen. Diesem Paradoxon versucht Christina Morina in ihrem bemerkenswerten Buch "Tausend Aufbrüche" auf den Grund zu gehen.

Herausgekommen ist nicht weniger als eine Demokratiegeschichte der Deutschen in Ost und West seit den 1980er Jahren, genauer gesagt eine Demokratiegeschichte "von unten", eine der "ganz normalen Bürgerinnen und Bürger". Um dies zu bewerkstelligen, ist Morina ihrer Profession als Historikerin folgend in die Archive gegangen und hat Briefe von Bürgern an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker, Bürgerpost an die Staats- und Parteiführung und Medien der DDR sowie Petitionen, Flugschriften, Unterschriftensammlungen aus der Wendezeit und Bürgerschreiben an die 1992/93 tagende Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat ausgewertet.

Anknüpfen an systemstürzerischen Erfahrungen der Menschen im Osten

Großen Wert legt Morina auf die Feststellung, dass auch in der diktatorischen "Volksdemokratie" der DDR eine Demokratiegeschichte vor 1989 existiert. In Initiativen wie "Aufbruch 90" oder "Forum für direkte Demokratie" habe sich dann eine "unbändige, demokratiehungrige Fantasie" ausgelebt.

Und die AfD? Die von Politikern aus dem Westen gegründete Partei habe es verstanden, den Ruf "Wir sind das Volk" zu okkupieren, sich als einzig verbliebene Partei zu gerieren, die für direktdemokratische Elemente eintritt, und knüpfe an den systemstürzerischen Erfahrungen der Menschen im Osten an, befindet Morina. Und der verordnete Antifaschismus der DDR habe die Menschen anfälliger für rechtsextremistische und rassistische Einstellungen gemacht.

Christina Morina:
Tausend Aufbrüche.
Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren.
Siedler,
München 2023;
400 Seiten, 28,00 €