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Foto: picture-alliance/akg-images
Lesen, streiten, Kaffee trinken: Das Café Griensteidl, hier verewigt von Reinhold Völkel, war Treffpunkt aufstrebender Wiener Schriftsteller.

Buchrezension: "Café Größenwahn" : Revolte im Wohnzimmer der Boheme

Dirk Liesemer taucht in die Welt von drei Kaffeehäusern in Wien, München und Berlin ein. Lebendig erzählt er von aufstrebenden Künstlern und Literaten.

18.01.2024
2024-02-05T12:07:50.3600Z
4 Min

Karl Kraus hatte eine spitze Feder. Der 1874 geborene Schriftsteller, Journalist und Publizist schrieb gerne scharfe Kritiken, die als "Erledigungen" bekannt wurden. Das gefiel nicht jedem, wie Kraus auch körperlich zu spüren bekam. Kaum zwei Monate, nachdem der 25-Jährige Anfang April 1899 seine Zeitschrift "Die Fackel" gegründet hatte, wurde er zusammengeschlagen.

Der Täter war der Dramatiker Oskar Friedmann. Kraus hatte eines seiner Stücke als "drastischen Beleg für die Erbärmlichkeit" des Theaterbetriebes kritisiert. Er beließ es nicht bei der Stückkritik, sondern wurde persönlich: Friedmann werde "der einzige Wiener Schriftsteller bleiben, bei dem der Schwachsinn gerichtlich erhoben ist".

Drohbriefe und ein Überfall

Der so Gescholtene stürmte tags darauf mit einigen Freunden das Café Imperial in der Wiener Innenstadt und prügelte den Kritiker blutig, wie er später dem Komponisten Arnold Schönberg auf der Straße zurief. Die Sache landete vor Gericht. Friedmann bekam wegen leichter Körperverletzung zehn Tage Arrest aufgebrummt, und Kraus vermerkte den "Überfall" neben 236 anonymen Schmähbriefen und 83 Drohbriefen im ersten "Rechenschaftsbericht" seiner Zeitschrift. Einschüchtern ließ sich der 1936 verstorbene Publizist dadurch nicht. Mehr als 20.000 Seiten in über 900 "Nummern" der Fackel veröffentlichte der Herausgeber bis zu seinem Lebensende, die meisten Texte schrieb er selbst.

Das Aufeinandertreffen von Kraus und Friedmann ist eine der zahlreichen Anekdoten, von denen Dirk Liesemer in seinem "Buch "Café Größenwahn" zu berichten weiß. Er taucht ein in die Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, das Buch endet im Jahr 1915, und nimmt insbesondere in drei Kaffeehäusern Platz. Das "Café Griensteidl" in Wien, das "Café Stefanie" in München und das "Café des Westens" in Berlin, eigentlich im damaligen Charlottenburg, verbindet, dass sie spöttisch bis anerkennenden jeweils als "Café Größenwahn" bezeichnet wurden. Das liegt an ihrer Klientel: aufstrebende Schriftsteller, Dramatiker, Künstler, überwiegend Männer, gelegentlich auch Frauen.

Wer damals etwas als Bohemien beziehungsweise Bohemienne auf sich hielt, der kam an Kaffeehäusern nicht vorbei. Es waren Informationsbörsen, lagen doch etliche Zeitungen und Zeitschriften aus, hier knüpfte man Kontakte, stritt, diskutierte bis spät in die Nacht, stellte Werke vor, wärmte sich auf, wenn das Zuhause zu kalt war, ließ sich eventuell auch mal von einem Ober aushalten.


„Wer an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erfahren wollte, wohin sich die Welt bewegt, musste ins Kaffeehaus.“
Dirk Liesemer

Kaffeehäuser waren die Denk-, Diskurs- und Lebensorte ihrer Zeit. "Wer an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erfahren wollte, wohin sich die Welt bewegt, musste ins Kaffeehaus", schreibt Liesemer gleich zu Beginn. Mehr noch: In den Kaffeehäusern finden "permanente Revolutionen im Denken, Fühlen und Empfinden statt". Und nirgends "ging es tollkühner, inspirierender, bissiger und gnadenloser zu" als den drei Cafés Größenwahn, die im Fokus seines Buches stehen.

Das ist ob der Vielzahl an Kaffeehäusern allein in Wien sicherlich eine gewagte These, aber Liesemer kann mit einer erstaunlichen Stammgästeliste aufwarten, die in seinen Lokalitäten die Runde machte. Das "Café Griensteindl" etwa ist Treffpunkt der Gruppe Jung-Wien um Hermann Bahr. Zu der Gruppe gehören unter anderem die Autoren der Wiener Moderne wie Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und Arthur Schnitzler. Den Jungliteraten gelingt es, die österreichische Literaturszene zu prägen.

Im "Café Stefanie" in München konnte man seinerzeit etwa auf Frank Wedekind treffen. Auch ihm war eine spitze Feder in die Wiege gelegt, auch er hatte deswegen Probleme. 1896 veröffentlichte er unter dem Pseudonym "Hieronymus" das Spottgedicht "Im heiligen Land" im "Simplicissimus" über die Palästinareise von Kaiser Wilhelm II. Das Kaiserreich hatte allerdings noch keinen Sinn für Humor und so musste Wedekind einige Monate in der Festung Königstein einsitzen. Der Auflage der Zeitschrift schadete es hingegen überhaupt nicht, wie Liesemer feststellt.

Antisemitismus und politischer Größenwahn

Das Buch ist lebendig erzählt, man reist mit den Charakteren, man erlebt ihre Familiengeschichten. Immer wieder streut der Autor, sachte dossierte, politische Zusammenhänge ein: das Erstarken des Antisemitismus in Wien etwa, den politischen Größenwahn des deutschen Kaiserreiches und natürlich den aufziehenden Ersten Weltkrieg. Ästhetische Diskussionen werden aufgegriffen, aber es menschelt auch. Das prekäre Leben manches Künstlers wird ausführlich beschrieben.

Diese Nähe führt indes dazu, dass der ganz große Blick auf das "System Kaffeehaus" etwas kurz kommt, ohne dass das als Vorwurf an den Autor begriffen werden sollte. Gern hätte man auch erfahren, was eigentlich nach 1915 mit den Kaffeehäusern passierte und wo der geneigte Größenwahnsinnige denn heute Kaffee trinken und streiten würde. Sind es virtuelle Foren, wie Liesemer kurz im Vorwort andeutet, oder vielleicht WG-Küchen und Eckkneipen? Das sind Fragen, mit denen man sich nach der Lektüre des Buches bei einer Tasse Kaffee gut beschäftigen kann.

Dirk Liesemer:
Café Größenwahn 1890-1915.
Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde.
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2023;
384 S., 25,00 €