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Ukraine und Russland : In Geiselhaft der Zaren

Schon die Zaren störten sich an der Ukraine: Mikhail Zygar beschreibt den langen Kampf der Ukrainer um ihre Eigenständigkeit.

14.10.2023
2024-02-06T14:03:49.3600Z
3 Min

2021 wartet der russische Präsident Wladimir Putin mit einem merkwürdigen Aufsatz auf: Unter der Überschrift "Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern" legte der Zeitvertreib-Historiker im Kreml der Welt dar, dass die Ukraine eine Schöpfung Lenins sei, ihr Nationalismus eine Erfindung der Habsburger und dass das Nachbarland im Begriff sei, von den USA als "Anti-Russland" gegen Moskau in Stellung gebracht zu werden.

Mikhail Zygar, einst Chefredakteur des oppositionellen russischen TV-Kanals "Doschd", heute im Exil in Berlin, hat sich vorgenommen, mit solchen Verdrehungen und Mythen aufzuräumen. Sein Buch "Krieg und Sühne" skizziert nicht nur die lange und wechselvolle Geschichte der Ukraine im östlichen Europa zwischen Russland, Polen-Litauen, dem Habsburger und dem Osmanischen Reich: Es blättert die Entstehung ukrainischer Staatlichkeit mit und vor allem gegen Russland in all ihren Facetten auf, die Putins Apologeten so vehement bestreiten.

Dessen Aufsatz ist ja nicht einfach Ausfluss "einer seltsamen Mischung aus orthodoxen Mystizismus, antiamerikanischen Verschwörungstheorien und Hedonismus, Paläste, gehobene Küche, seltene Weine", wie Zygar schreibt. Die Ablehnung einer eigenständigen Ukraine habe in Russland eine lange Tradition. Sie reicht zum Beispiel zurück bis ins Jahr 1674, als ein deutscher Mönch namens Innozenz Giesel ein geeintes großrussische Volk der "Kiewer Rus" imaginierte und damit eine "Russische Welt" schuf, auf die man sich in Moskau heute beruft. Auch aus einer anderen Denkfigur lässt Zygar mächtig Luft raus: Moskau als "drittem Rom" und Nachfolger der römischen Kaiser stellt Zygar eine Geschichte eines Volks der Waräger entgegen, deren Nachfahren im Fürstentum Moskau ihren Aufstieg als beflissene Steuereintreiber der mongolischen "Goldenen Horde" bewerkstelligen.

Unkrainischer Eigensinn

Bevor Zar Peter die Ukraine im 18. Jahrhundert in das Russische Reich eingliederte und ihr die Leibeigenschaft aufzwang, war das Herrschaftsgebiet der Saporoger Kosaken ein Land, in dem die Bauern frei waren und der Anführer, der Hetman, in Versammlungen bestimmt wurde. Auch Peters Nachfolgerin Katharina störte sich an ukrainischem Eigensinn: "Die Provinzen müssen russifiziert werden, damit sie aufhören wie ein Wolf in den Wald zu starren." Im späten 19. Jahrhundert gingen die Romanows schließlich so weit, die ukrainische Sprache zu verbieten.

Zgyars Buch bietet ein gut lesbare Reise durch die Kultur- und Literaturgeschichte. Auch hier begegnet dem Leser großrussischer Chauvinismus allerorten: Die Kosaken seien faul, neigten zu Trunksucht und Banditentum, ihre ungezügelte Freiheit bedeute nichts als Ärger - so hat das ein Historiker am russischen Hofe, Gerhard Müller, auch er wie Mönch Innozenz ein Deutscher, beschrieben. Später begeistert sich halb St. Petersburg an der magischen und vorgeblich rückständigen Volkstümlichkeit, die in den Erzählungen des Ukrainers Nikolai Gogol aufscheint, während sich Alexander Puschkin im berüchtigten Poem "Den Verleumdern Russlands" westliche Einmischung in slawischen Brüderstreit verbittet.

Überblick über Geschichte der Ukraine

Im zweiten Teil des Buches zeichnet Zygar die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart nach: Ihre kurze Unabhängigkeit nach 1917, die Kollektivierung und der Holodomor, das Aushungern von Millionen Ukrainern im Zeichen von Stalins Industrialisierung, der Aufstieg des Breschnew-Netzwerks aus dem ukrainischen Dnipropetrowsk ins sowjetischen Politbüro der 1960er Jahre, der Weg in die Unabhängigkeit 1991, die Krim-Besetzung 2014 und der von Russland befeuerte Bürgerkrieg im Osten des Landes.


„Wenn die Ukraine der Nato beitritt, dann wird sie das ohne die Krim und den Osten tun.“
Russlands Präsident Wladimir Putin im Jahr 2009

Zwei Aussagen Putins ziehen sich wie ein Menetekel durch das Buch, Zygar kommt immer wieder darauf zurück. Man müsse sich um die Ukraine kümmern, anderenfalls "verlieren wir sie", so der russische Staatschef, der damit einen Satz Stalins wiederholt. 2009 wirft Putin dem Westen nach dem Nato-Gipfel in Bukarest einen weiteren Satz vor die Füße: "Wenn die Ukraine der Nato beitritt, dann wird sie das ohne die Krim und den Osten tun."

In einem Punkt lässt Zygar keinen Zweifel: Russlands Imperium ist mit dem Krieg gegen die Ukraine unumkehrbar Geschichte. Für seine Landsleute stelle sich die Aufgabe, sich von der chauvinistischen Droge zu befreien. "Wir müssen aufhören zu glauben, dass wir etwas Besonderes sind, aufhören uns als Zentrum der Welt zu sehen, als ihr Gewissen, ihre Quelle der Spiritualität. Das ist alles Blödsinn."

Mikhail Zygar:
Krieg und Sühne.
Der lange Kampf der Ukraine gegen die russische Unterdrückung.
Aufbau,
Berlin 2023;
540 Seiten, 32,00 €