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"Queer" von Benno Gammerl : Urnische Liebe

Der Historiker Benno Gammerl erzählt in "Queer" die Geschichte queerer Bewegungen vom Kaiserreich bis heute.

26.06.2023
2024-01-24T14:03:43.3600Z
2 Min

Die aktuelle Debatte um das von der Ampelkoalition angestrebte Selbstbestimmungsgesetz steht in der Tradition einer schrittweisen Entkriminalisierung nonkonformer Lebensweisen. 1994 wurde der Paragraf 175, der Sex zwischen Männern unter Strafe stellte, endgültig abgeschafft. 2001 schuf die rot-grüne Bundesregierung die eingetragene Lebenspartnerschaft, 2002 hob der Bundestag die NS-Urteile gegen Homosexuelle auf. Seit 2006 können sich Betroffene mit Hilfe des Antidiskriminierungsgesetzes gegen Benachteiligungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung wehren. 2017 beschloss das Parlament die "Ehe für alle", das Heiraten homosexueller Paare ist seither keine Besonderheit mehr.

Die sexualpolitischen Reformen der letzten Jahrzehnte lassen leicht vergessen, wie steinig der Weg zu diesen Erfolgen war. Daran erinnert das neue Buch des Historikers Benno Gammerl, das eine Übersicht über die queere Geschichte Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert liefert.

Weitgehend unbekannt ist, wie früh sich einzelne Aktivisten in Deutschland dafür einsetzten, Schwule und Lesben nicht länger als sündhaft, kriminell oder krank zu verachten. Bereits 1864, sieben Jahre vor der Aufnahme des berüchtigten Paragrafen 175 in das Strafgesetzbuch, veröffentlichte der Jurist Karl-Heinz Ulrichs eine Schrift über die von ihm so genannte "urnische Liebe". Der Begriff bezog sich auf die antike Göttin Aphrodite, die dem Mythos zufolge aus den abgetrennten Geschlechtsteilen ihres Vaters Uranos und dem Meerschaum entstiegen war. Als Symbol für eine "nicht heterosexuelle Form der Fortpflanzung" wurde sie zur "Patronin" gleichgeschlechtlicher Beziehungen.

Einbeziehen queerer Erfahrungen und Erinnerungen nötig

Gammerl lehrt seit 2021 als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Die in queeren Kreisen häufig idealisierte Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bewertet er ambivalent. Man werde dieser Epoche nicht gerecht, wenn man sie einseitig zu den "goldenen Zwanzigern" verkläre. Denn neben der vor allem in Berlin präsenten schwulen Subkultur gab es auch "homo- und transfeindliche Gewalt, Zensur und andere Hürden". Dem "sexualdemokratischen Aufbruch" stellten sich gerade im ländlichen Raum "starke Gegenkräfte" entgegen. Nach Hitlers Machtübernahme verschärfte sich die Verfolgung von Homosexuellen, viele von ihnen starben in den Konzentrationslagern.

In der jungen Bundesrepublik, resümiert Gammerl, habe sich die Stigmatisierung zunächst "beinahe nahtlos" fortgesetzt. Die von den Nationalsozialisten verschärfte Fassung des Paragrafen 175 blieb unverändert in Kraft. Erst nach der Studentenrevolte 1968 begann eine echte Liberalisierung. Nochmals zurückgeworfen durch die homophobe Aids-Hysterie der 1980er Jahre entstand langsam ein toleranteres gesellschaftliches Klima.

Für Gammerl ist die Geschichte der Sexualpolitik "mehr als ein reizvolles Dekor am Rande". Ohne die Einbeziehung queerer Erfahrungen und Erinnerungen bleibe die Betrachtung der deutschen Vergangenheit "unvollständig". Zur Einordnung der aktuellen Kontroversen um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt liefert sein Buch wertvolle Impulse.

Benno Gammerl:
Queer.
Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute.
Hanser,
München 2023;
272 Seiten, 24,00 €