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Sprache des Kapitalismus : Wirkmächtige Narrative

"Gratismentalität", "Rettungsschirm" oder "sozial schwach": Simon Sahner und Daniel Stähr entlarven in "Sprache des Kapitalismus" sprachliche Verschleierungen.

20.03.2024
2024-03-21T17:08:06.3600Z
3 Min

Schon 2016 veröffentlichten zwei Autoren der "Frankfurter Rundschau" ein "Wörterbuch der Irreführung". Daniel Baumann und Stefan Hebel entlarvten eine politische Sprache, die ihre Kollegen im Journalismus häufig kritiklos übernehmen. Begriffen wie "Eigeninitiative", "sozial Schwache", "Wettbewerbsfähigkeit" oder "Bürokratieabbau" bescheinigten sie eine "sedierende Wirkung". Wenn sich eine solche Floskel erst einmal etabliert habe, so Baumann und Hebel, präge sie "fortan unsere Wahrnehmung der Welt - ob der Deutungsrahmen selbst überhaupt stimmt, wird dann nur noch selten hinterfragt".

Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Steve Jobs, Gründer und CEO von Apple, pflegte bei seinen Auftritten stets gezielt das Bild vom Selfmademan und den Mythos vom amerikanischen Traum.

An diese Analyse knüpft jetzt das Buch "Die Sprache des Kapitalismus" an. Verfasst haben es der Literaturwissenschaftler Simon Sahner und der Ökonom Daniel Stähr. Was steckt hinter Phrasen wie "Rettungsschirm", "Gratismentalität", "Technologieoffenheit" oder "kranker Mann Europas"? Wieso sind in finanzielle Schieflage geratene Banken oder Versicherungen angeblich "too big to fail" und müssen daher auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden? Gibt es sie überhaupt, die "unsichtbare Hand des Marktes", von der schon der Vater der heutigen Volkswirtschaftslehre, der schottische Ökonom Adam Smith, im 18. Jahrhundert schrieb? Seine Formulierung griffen die marktradikalen "Chicago Boys" um Milton Friedman auf; in der chilenischen Militärdiktatur unter Augusto Pinochet setzten sie ihre Ideologie ab Mitte der 1970er Jahre erstmals in die Praxis um. Nur wenig später folgten diesem neoliberalen Kurs auch Großbritannien unter Margaret Thatcher und die USA unter Ronald Reagan.

These: Begriffe sind historisch gewachsene Machtzuschreibung

Was bedeutet es, wenn Menschen davon sprechen, Geld zu "verdienen" oder es anderen zu "schulden"? Sind Unternehmen "Arbeitgeber" oder passt diese Beschreibung nicht viel treffender auf die dort Beschäftigen, die irrigerweise als "Arbeitnehmer" bezeichnet werden? Sahner und Stähr interpretieren diese und andere Begriffe als eine "historisch gewachsene Machtzuschreibung", abgebildet und manifestiert durch eine Sprache, die im Alltag meist achtlos verwendet wird und damit Realitäten schafft.

Das Buch beginnt mit der wirkungsvollen Erzählung vom erfolgreichen Unternehmergenie, eindringlich repräsentiert durch Steve Jobs. Der inzwischen verstorbene Apple-Chef schaute bei seinen Produktvorstellungen im schwarzen Rollkragenpullover gerne auf seine persönliche Biografie zurück. Offenherzig schilderte er auf der Bühne, dass er sein Studium abgebrochen und vor der Firmengründung seinen Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Pfandflaschen bestritten habe. Jobs pflegte bei seinen Auftritten gezielt den Mythos vom amerikanischen Traum.


Simon Sahner, Daniel Stähr:
Die Sprache des Kapitalismus.
S. Fischer,
Frankfurt/M. 2024;
304 Seiten, 24,00 €

 


Ein wichtiges Element solcher Geschichten ist stets die Behauptung, es aus eigener Kraft, ganz ohne Sozialleistungen oder andere finanzielle Unterstützung von außen, nach ganz oben geschafft zu haben. Die meisten dieser Narrative, so Sahner und Stähr, seien "unvollständig und verbergen Entscheidendes, viele sind schlicht und ergreifend falsch". Die Geschichte der von Apple entwickelten Geräte - und hier vor allem des Smartphones - belegt, wie sehr das Unternehmen von massiven staatlichen Investitionen in die meist militärisch motivierte Grundlagenforschung der USA profitiert hat. Nur weil Steve Jobs diesen Fakt nicht erwähnte, konnte er sich als scheinbar unabhängiger Selfmademan inszenieren.

Die Autoren plädieren für mehr sprachliche Genauigkeit, sie wollen den "Mustern und Spuren nachgehen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat und die ihn gleichzeitig stützen". Die Art, wie über das Wirtschaftssystem geredet werde, verschleiere die Funktionsweise ökonomischer Prozesse, sie mache Handlungsmöglichkeiten unsichtbar und festige dadurch bestehende Verhältnisse. Das Ergebnis sei, dass "wir unsere eigene Rolle in diesem System falsch einschätzen". Als prägnantes Beispiel erläutern Sahner und Stähr den sprachlichen Umgang mit dem Thema Inflation: Steigen die Preise wie von selbst? Oder ist es nicht eher so, dass sie von den Verkäufern der Produkte gezielt erhöht werden? Unsichtbar bleibe stets, dass "jemand die Verantwortung trägt", dass es "Menschen gibt, die davon profitieren".

Keine perfide Verschwörung

Die kritisierten Begriffe und Narrative, betonen die Verfasser, werden nicht immer bewusst genutzt. Und keineswegs seien sie Teil einer perfiden Verschwörung: "Wir unterstellen nicht allen Personen, die in diesen Mustern kommunizieren, dass sie Verbraucher unwissend halten wollen." Vielmehr erzählen "wir alle die Geschichten des Kapitalismus und merken es teilweise nicht einmal".

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Sprachliche Verschleierungen zu entlarven sei eine besondere Herausforderung, und "keiner von uns könnte sie ohne den anderen angehen", bilanzieren Sahner und Stähr die Zusammenarbeit zwischen einem Kulturwissenschaftler und einem Ökonomen. In dieser Kooperation der beiden Fachdisziplinen liegt die besondere Stärke des Buches. Denn nur wenige Wirtschaftswissenschaftler hinterfragen die von ihnen verwendete, meist von einer einseitigen Weltanschauung geprägte Sprache. Umgekehrt interessieren sich Feuilletonisten oft nicht allzu sehr für ökonomische Zusammenhänge.