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Foto: DBT/Henning Schacht
Wolfgang Schäuble hat viele politische Wegmarken mitgestaltet, Lösungen aufgezeigt und Entscheidungen getroffen.

Nachruf auf Wolfgang Schäuble : Der Vordenker

Im Alter von 81 Jahren ist der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gestorben. Mehr als 50 Jahre saß der Christdemokrat im Bundestag.

29.12.2023
2024-01-24T17:12:22.3600Z
5 Min

Es ist wenigen Spitzenpolitikern vorbehalten, in ihrer Laufbahn zahlreiche bedeutende Ämter zu übernehmen und wichtige Ereignisse und Entscheidungen maßgeblich mit zu prägen. Wolfgang Schäuble (CDU) war so ein Mann, der nicht nur höchste Staatsämter innehatte, sondern auch ein halbes Jahrhundert Parlamentsgeschichte gestaltet hat. In der Geschichte der Bundesrepublik blickt kaum ein anderer Politiker auf eine vergleichbar lange und bedeutungsvolle Karriere zurück. Schäuble war Kanzleramtsminister, Innen- sowie Finanzminister, Partei- und Fraktionschef, seit 1972 ohne Unterbrechung Bundestagsabgeordneter und von 2017 bis 2021 Bundestagspräsident. Am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages ist er mit 81 Jahren im Kreise seiner Familie in seiner Heimat Offenburg gestorben.

Schäuble verkörperte einen selten gewordenen Typus eines Staatsmannes

Schäuble wurde am 18. September 1942 in Freiburg im Breisgau geboren, studierte Recht und Wirtschaft und trat 1965 der CDU bei. Er bewährte sich in der Folge in allen Ämtern souverän und überzeugte durch seine Führungsqualitäten. Auch seinen Ruf, widerstreitende Meinungen unter einen Hut zu bringen, erwarb er früh. In allem verkörperte er den selten gewordenen Typus eines Staatsmannes, der jeder Aufgabe gerecht wird und daher für alle Spitzenämter in Frage kommt.

Fachkompetenz, eine rasche Auffassungsgabe und Mut zum Widerspruch waren es aber nicht allein, die seine Karriere beförderten. Sein verbindlicher, von alemannischer Gelassenheit orchestrierter Umgangsstil ließ seine Unnachgiebigkeit nie so abrupt erscheinen, wie sie in der Sache vielleicht gemeint war. In der Beliebtheitsskala bundesdeutscher Politiker rangierte er stets weit oben. Die Wähler vertrauten seiner Befähigung, aber auch seinem kreativen Weitblick.

Seit November 1984 Chef des Kanzleramtes, war Schäuble der kompetenteste Kopf unter Kanzler Helmut Kohls Mitarbeitern und die solideste Stütze in dessen Machtzentrum. Als "Moderator" und "Krisenmanager" in dem zu Beginn der Ära Kohl "störanfälligen" Kanzleramt zählte Schäuble zu den wenigen Kabinettsmitgliedern, deren Kompetenz nicht in Frage gestellt wurde, auch nicht von der Opposition. Im April 1989 berief Kohl seinen "engsten und wertvollsten Berater", wie er sagte, zum Innenminister. Lange von der Koalition vor sich hergeschobene Reformvorhaben, darunter die Novellierung des Ausländerrechts und die Einbringung eines Datenschutzgesetzes, nahm Schäuble rasch in Angriff und schloss sie in der laufenden Legislaturperiode ab. Und trotzdem schien 1989 Kohls politisches Ende nahe. Schäuble blieb an dessen Seite und unterstützte ihn gegen Versuche, ihn zu stürzen.

Schäuble war Architekt der Wiedervereinigung

Die wohl größte Herausforderung wartete nach dem Zusammenbruch der DDR auf Schäuble. In wenigen Monaten handelte er den Einigungsvertrag aus. Mit Theo Waigel (CSU), der die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion auf den Weg brachte, gehörte Schäuble zu den Gestaltern der Wiedervereinigung. Die Unterzeichnung des Abkommens im August 1990 zählte er zu den großen Augenblicken seiner Karriere.

Eine weitere epochale Weichenstellung sollte bald folgen. Im Juni 1991 trug Schäuble mit einer fulminanten Rede im Bundestag wesentlich dazu bei, den Sitz von Bundestag und Teilen der Regierung von Bonn nach Berlin zu verlegen. Dabei trat Schäubles patriotische Gesinnung zutage, die durch sein Ansehen als Wegbereiter der Wiedervereinigung einen Bedeutungszugewinn erfahren hatte.

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Schäuble trat Ende 1991 auf Kohls Wunsch an die Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Neben gesetzgeberischen Initiativen, darunter das 1992 mit der SPD ausgehandelte neue Asylrecht, wartete er mit zunehmender Kritik an der Reformunwilligkeit in Deutschland auf und äußerte sich vermehrt über grundsätzliche Fragen zur Zukunft von Staat und Gesellschaft.

Karriereknick nach Parteispendenaffäre

Nach Kohls Niederlage bei der Bundestagswahl 1998 übernahm Schäuble den CDU-Vorsitz und trat damit ein schweres Erbe an. Zur CDU-Generalsekretärin berief er die bisherige Umweltministerin Angela Merkel. Nach Bekanntwerden der Parteispendenaffäre stürzte die CDU in ihre bisher schwerste Krise. In Bedrängnis geriet auch Schäuble, nachdem bekannt geworden war, dass er 1994 die Barspende eines Waffenhändlers erhalten hatte. Unterdessen setzte sich Merkel ohne Wissen Schäubles durch einen mutigen Zeitungsartikel kurz vor Weihnachten 1999 an die Spitze der Erneuerer der CDU. Den Gedanken, sie zu entlassen, verwarf er schon wenig später. Zum einen gab er ihr in der Sache Recht, zum anderen musste er zur Kenntnis nehmen, dass sie in der Partei Zustimmung erhielt.

Während Merkel zur Hoffnungsträgerin der Union avancierte, trat Schäuble Mitte Februar 2000 vom Partei- und Fraktionsvorsitz zurück. Der Karriereknick ließ ihn vorübergehend in die zweite Reihe treten. Sein Ansinnen, 2004 als Nachfolger von Johannes Rau Bundespräsident zu werden, scheiterte an Merkels Widerstand. Ihr Verhältnis wurde in der Folge als sachlich beschrieben.

Zweite Karriere unter Bundeskanzlerin Merkel

Mit Merkels Wahl zur Bundeskanzlerin 2005 nahm Schäubles "zweite" Karriere ihren Fortgang. Er übernahm wiederum das Innenressort und setzte vor allem in der Bekämpfung des Terrorismus wichtige Akzente. Nach der Bildung des zweiten Kabinetts Merkel 2009 trat er an die Spitze des Finanzministeriums. Seine Amtszeit bis 2017 war vor allem von den Folgen der dramatischen europäischen Staatsschuldenkrise geprägt. Dass es ihm gelang, die deutsche Haushaltslage zu konsolidieren und auf Neuverschuldung zu verzichten - übrigens erstmals seit 1969 - ging im europäischen "Finanztheater" unter.


„Ihr Mann war ein Ausnahmepolitiker, leidenschaftlicher Parlamentarier und großer Europäer.“
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in ihrem Kondolenzschreiben an Ingeborg Schäuble

Im Oktober 2017 übernahm Schäuble sein letztes bedeutendes Amt, protokollarisch das ranghöchste: Er wurde Bundestagspräsident. Einen Tag vor seinem 75. Geburtstag konnte Schäuble 2017 zugleich ein seltenes Jubiläum begehen. An diesem Tag blickte er auf die längste ununterbrochene Mitgliedschaft in einem deutschen Nationalparlament zurück.

Das Attentat im Oktober 1990

Zur großen Tragik in Schäubles Leben gehörte das im Oktober 1990 auf ihn verübte Attentat, das er nur knapp überlebte und das eine Querschnittslähmung zur Folge hatte. Seiner körperlichen Einschränkung widersetzte er sich mit bewundernswerter Selbstdisziplin. Kein führender Politiker der letzten Jahrzehnte ist mit gescheiterten Hoffnungen und Schicksalsschlägen so souverän umgegangen, keiner hat so wenig Klage in die Öffentlichkeit getragen wie er. Schäuble nahm auch in der Hinsicht eine Sonderstellung ein.

Wegbegleiter würdigten Schäuble als Ausnahmepolitiker. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) schrieb in einem Kondolenzbrief an Schäubles Witwe Ingeborg: "Mit Wolfgang Schäuble verliert unser Land eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Ihr Mann war ein Ausnahmepolitiker, leidenschaftlicher Parlamentarier und großer Europäer." Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb: "Mit Wolfgang Schäuble haben wir einen großartigen Menschen und leidenschaftlichen Politiker verloren, der Historisches für unser Land erreicht hat." Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) würdigte den "prägenden Christdemokraten".

CDU-Chef Friedrich Merz erklärte: "Wir alle verneigen uns in größtem Respekt vor der Lebensleistung eines großen Deutschen, eines Patrioten und vor allem eines großen Europäers." Und Angela Merkel teilte mit: "Deutschland verliert mit ihm eine überragende Persönlichkeit mit politischer und programmatischer Weitsicht. Wolfgang Schäubles Stimme werden wir in Deutschland vermissen, sein Rat wird mir persönlich fehlen."