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Abkehr vom Neoliberalismus : Warum Biden in den USA auf einen starken Staat setzt

Mit Milliardeninvestitionen will US-Präsident Biden die heimische Wirtschaft im Handelskrieg mit China stärken. Dafür bricht er mit neoliberalen Grundsätzen.

30.12.2023
2024-03-04T11:43:52.3600Z
6 Min

"Wegen Joe Biden hat dieses Unternehmen und diese Stadt wieder Hoffnung." Sätze wie den von Tony Salerno, Produktmanager bei der in Pueblo im US-Bundesstaat Colorado ansässigen Firma CS Wind, kriegt der US-amerikanische Präsident kurz vor Beginn des Wahljahres selten zu hören. Und das, obwohl das Wirtschaftswachstum zuletzt deutlich über fünf Prozent betragen, die Inflation sich seit ihrem Neun-Prozent-Hoch im Sommer 2022 mehr als halbiert hat, obwohl die Löhne im Schnitt deutlich stiegen und die Arbeitslosigkeit auf 3,7 Prozent gesunken ist. Die geringe Zufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage, seit der Demokrat im Januar 2021 ins Weiße Haus einzog, ist Bidens wundester Punkt mit Blick auf seine Ambitionen zur Wiederwahl.

Dabei ist der aus Südkorea stammende weltgrößte Hersteller von riesigen Türmen für Windkraftturbinen kein rühmlicher Einzelfall. CS Wind krebste bis 2021 coronabedingt am unteren Ende der Wirtschaftlichkeit herum, auch weil diese Art der Gewinnung erneuerbarer Energie in den USA bis dahin nur eine untergeordnete Rolle spielte. "Wir haben uns wirklich Sorgen um unsere Existenz gemacht", sagt Tony Salerno.

Biden will Arbeitsplätze im Mittelstand sichern

Dann kam Biden mit einem Dreischlag staatlich beeinflusster Planwirtschaft, wie man sie im Mutterland des Ellenbogen-Kapitalismus nicht erwartet hätte. Vier Tage im Amt, erließ seine Regierung die "Made in America"-Verordnung. Ein Dokument - das kurz gesagt - verfügt, bei staatlichen Beschaffungsaufträgen nur noch Firmen den Zuschlag zu erteilen, deren Produkte innerhalb der USA hergestellt werden. Das Ziel: die Sicherung von Arbeitsplätzen im Mittelstand - dem von Biden vielbeschworenen Rückgrat Amerikas.

Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Investitionen in Windkraft: Präsident Biden im November beim Besuch des Anlagenbauers CS Wind.

Mit dieser Re-Nationalisierung der Ökonomie und der damit verbundenen Abkehr von neoliberalen Grundsätzen schlug der Präsident ordnungspolitisch einen Weg ein, der mit interventionistisch noch vorsichtig umschrieben ist. Im Sommer 2022 legte der Kongress in Washington dann mit knappen demokratischen Mehrheiten drei historische Konjunkturpakete auf, die aus Sicht der Verfechter freier Märkte Amerikas kaum gezügelten Kapitalismus substanziell verändert haben, weil sie aus Protektionismus und gewaltigen Subventionsprogrammen bestehen. Ihr Volumen: weit über zwei Billionen Dollar. Die Infrastrukturpakete zur Ertüchtigung von Straßen, Brücken, Häfen und Schienen, der "Chips and Science Act", der die Produktion von Halbleitern ankurbeln soll, sowie der zur Förderung grüner Technologien gedachte "Inflation Reduction Act" (IRA) sind laut US-Wirtschaftswissenschaftlern nach Art und Umfang die größten staatlichen Strukturwandelmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg. Leitmotiv aller Maßnahmen ist das, was Biden bereits bei seinem Amtsantritt beschworen hatte: der Kampf der Systeme. Demokratie gegen Autokratie, Freiheit gegen Unfreiheit. Vereinfacht: Amerika gegen China.

Durch den IRA sahen sich CS Wind in Pueblo, so wie Hunderte anderer Unternehmen in den USA, plötzlich befähigt, zu expandieren statt abzuwickeln. Mit dem Programm dreht die Regierung an vielen Stellschrauben gleichzeitig, um E-Mobilität, Solarenergie, Windkraft, neue Batterien, Wasserstoff und andere grüne Technologien nicht nur zu fördern. Ziel ist es, US-Firmen in den genannten Sparten binnen eines Jahrzehnts Weltmarktführer werden zu lassen und Billiglohn-Produzenten in Asien den Rang ablaufen. Dafür sind bis Anfang der 2030er Jahre nominell rund 370 Milliarden Dollar, umgerechnet 345 Milliarden Euro, vorgesehen. Geld, das der Staat nicht physisch vergibt, sondern durch Steuergutschriften von bis zu 30 Prozent erlässt. Unternehmen, die in die Entwicklung und Herstellung der nötigen "tools", wie Maschinen, Vor- und Endprodukte, in den USA investieren, können später jahrelang Gewinne steuerfrei verbuchen.

Der Handel der USA mit China weist ein beträchtliches Defizit auf: Die USA importieren weit mehr aus China, als sie von dort exportieren.

Weil die Höhe der Gutschriften nicht gedeckelt ist, könnten die Staatshilfen in den kommenden zehn Jahren de facto auf über eine Billion Dollar klettern, errechneten Wall-Street-Analysten bereits. Allein die staatliche Anschubförderung für die Halbleiterindustrie beträgt alles in allem knapp 280 Milliarden Dollar - fast das Dreifache des deutschen Sondervermögens für die Bundeswehr. Bisher liegen rund 500 Anträge von Firmen vor, die darüber hinaus auch noch Steuerermäßigungen von 25 Prozent bei entsprechenden Investitionen mit einkalkulieren dürfen.

Wie die Unternehmen um die Unterstützung aus Washington kämpfen, zeigt sich aktuell am eindrücklichsten im US-Bundesstaat Arizona. Rund um die Metropole Phoenix sind die Branchenriesen Intel und TSMC dabei, für 60 Milliarden Dollar mehrere Produktionsstätten hochzuziehen. Intel-Vorstandschef Pat Gelsinger lobte Bidens Initiative als "das bedeutendste industriepolitische Gesetz seit dem Zweiten Weltkrieg".

Staatsverschuldung schon unter Trump enorm gestiegen

Die Kehrseite aller Anstrengungen ist die bereits in der Amtszeit von Bidens Vorgänger Donald Trump enorm gestiegene Staatsverschuldung. Allein in den vergangenen zwölf Monaten wuchs sie trotz Daueraufschwung um zwei Billionen Dollar - das entspricht fast 7,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Bis in demokratische Kreise hinein zieht sich darum die Kritik an Biden, künftige Generationen für seine Klimaschutzprojekte finanziell unverantwortlich hoch zu belasten. James Jones etwa, ehemaliger General und Berater von Präsident Barack Obama, nennt die Strategie "rücksichtslos und gefährlich".

Wie brisant das staatlich gelenkte Experiment ist, das Auto-Land Amerika auf nachhaltig und öko zu trimmen, zeigt der aktuelle Präsidentschaftswahlkampf: Während Biden der Automobilindustrie im Mittleren Westen goldene Zeiten prophezeit, greift sein mutmaßlicher Widersacher Donald Trump zu apokalyptischen Bildern. Die Demokraten wollten die "Autoindustrie ermorden", behauptete der Republikaner kürzlich in einer Werkshalle bei Detroit. Sollte, wie Biden es anpeilt, bis 2030 der Anteil von E-Autos beim Neuwagenverkauf von heute acht Prozent auf 50 Prozent steigen, würden Zehntausende Arbeiter überflüssig, so Trumps Warnung, denn E-Autos könnten mit weniger Aufwand zusammengesetzt werden als Verbrenner.

Bidens Politik stößt auf Widerstände 

Bidens Klimaschutzpolitik hält Trump für die Kopfgeburt von "linken Umweltirren aus der Hölle". Im Fall seiner Wiederwahl verspricht er die staatliche Förderung von Elektro-Autos auf null zu fahren und die Produktion von fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas radikal zu erhöhen. Bei den Autogewerkschaften hat das bereits für Unruhe gesorgt. Man weiß nicht, wem man vertrauen soll.

Zu den lautesten Kritikern des Amerika-zentrierten Protektionismus gehört der frühere demokratische Finanzminister unter Bill Clinton, Larry Summers. Dass Biden und die Demokraten der Überzeugung seien, sie könnten die vor 30 Jahren in weiten Teilen gen Fernost abgewanderte Fertigungsindustrie durch staatliche Hilfen wieder zurücksubventionieren, hält der Wirtschaftswissenschaftler für einen Trugschluss.

Porträt von Branko Milanovic
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So fehlten allein für die mit Macht forcierte Halbleiterindustrie in naher Zukunft fast 100.000 Fachkräfte. Ähnlich sehe es bei der Windkraft aus. Denn um in den Fördergenuss zu kommen, muss ein nennenswerter Anteil des eingesetzten Materials für Offshore- und Land-Windparks aus den USA kommen. Für die riesigen Anlagen, die die Freiheitsstatue in New York überragen, werden zudem massenhaft Beton, Stahl wie auch Seltene Erden gebraucht. Doch die Werkstoffe sind knapp und durch die Inflation enorm teuer geworden. Einige Unternehmen haben milliardenschwere Projekte vor der Küste New Jerseys bereits abgeschrieben.

Die Windenergie, im Vergleich zu Europa in den USA ein Waisenkind, kommt nicht wirklich voran. Dabei hat Biden die Marschroute ausgegeben, dass binnen 15 Jahren knapp zehn Millionen Haushalte mit dieser Form der erneuerbaren Energie versorgt werden sollen. Dafür allerdings müssten gut 2.000 neue Windräder gebaut werden. Bis 2030 sei das "illusorisch", meinen Experten. Würde Donald Trump 2024 gewählt, wäre es mit der Förderung der Windenergie ohnehin vorbei. Weil Windräder ihm den Blick aufs Meer von einem seiner Golfplätze verschandeln und angeblich die Vogelpopulation dezimieren, hasst der Republikaner die Technologie mit ganzem Herzen.

Tony Salerno von CS Wind weiß das. Auch darum hofft er bei der Wahl 2024 auf Rückenwind für Joe Biden. 

Der Autor ist USA-Korrespondent der Funke-Mediengruppe.

Was bedeutet Freihandel?

💡 Er folgt dem Grundsatz des Liberalismus, wonach der Wohlstand aller Länder am größten ist, wenn es keine staatlichen Beschränkungen des internationalen Handels gibt. Der Austausch von Gütern und Dienstleistungen ist frei von Zöllen, mengenmäßigen Beschränkungen, Mindestpreisen oder technischen Normen. Um solche in der Realität häufig vorkommenden Handelshemmnisse abzubauen, schließen Staaten Freihandelsabkommen oder bilden zum Beispiel Freihandelszonen.

🧔 Die Idee des Freihandels geht auf den britischen Ökonomen David Ricardo zurück. Seine Außenhandelstheorie beruht auf dem Prinzip des komparativen Vorteils und besagt, dass Außenhandel für ein Land selbst dann vorteilhaft ist, wenn alle Waren günstiger im Inland produziert werden könnten.