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Neue Rolle für die Gemeinden

daseinsvorsorge Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung ist nun im EU-Recht verankert - und das hat Folgen

11.01.2010
2023-08-30T11:25:44.7200Z
4 Min

Ausgerechnet aus Brüssel erhält die öffentliche Wirtschaft in Deutschland Rückenwind. Der neue EU-Vertrag erkennt das Recht auf kommunale Selbstverwaltung als Bestandteil der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ausdrücklich an, auch wenn dies zu Abstrichen am reinen Wettbewerbsprinzip führt. Dienstleistungen von allgemeinem und von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse haben seit Beginn diesen Jahres europäischen Verfassungsrang. Verfechter der öffentlichen Wirtschaft wie Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil (SPD) oder der Kölner Sozialwissenschaftler Frank Schulz-Nieswandt glauben, dass damit der Rückzug der öffentlichen Hand auf einen reinen Gewährleistungsstaat gestoppt ist und wieder mehr Spielräume für unternehmerische Aktivitäten vor allem auf kommunaler Ebene entstehen.

Umbruchsituation

"Kommunale Unternehmen positionieren sich als Wertegemeinschaft mit starkem Selbstbewusstsein und das in einer Zeit, in der gesellschaftspolitisch der Wert öffentlich verantworteter Infrastruktur neu bewertet wird", beschreibt Oberbürgermeister Weil in seiner Funktion als Präsident des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU) die Umbruchsituation. Die Verankerung der kommunalen Daseinsvorsorge im europäischen Recht wird den allgemeinen Privatisierungsdruck erheblich abschwächen, erwarten viele Experten und Kommunalpolitiker. Das betrifft vielfältige Dienstleistungen. Kernaktivitäten der Kommunen und Gebietskörperschaften sind die Energie- und Wasserversorgung, die Entsorgung, der Nahverkehr und die Sparkassen. Daneben gibt es nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, zu denen Museen, Theater, Bibliotheken, Schulen und Kindertageseinrichtungen ebenso gehören wie das Sozial- und Gesundheitswesen bis hin zur Feuerwehr und dem botanischen Garten. Unerlässlich für die Betätigung von Kommunen ist, dass die Dienstleistungen örtlich erbracht und örtlich verantwortet werden müssen. Deshalb verbieten zahlreiche Kommunalordnungen der Länder auch Stadtwerken und anderen kommunalen Dienstleistern ein Engagement jenseits der jeweiligen Gemeindegrenze. Doch sogar diese Restriktion scheint jetzt zu wanken. Kommunale Unternehmen sollen sich im Wettbewerb untereinander und mit Privaten messen lassen und dafür müssen die Einschränkungen des Örtlichkeitsprinzips möglichst bald fallen. In Deutschland läuft die allgemeine Wertschätzung für die kommunale Daseinsvorsorge noch etwas hinter der europäischen Entwicklung her. "Wir vermissen in der Endfassung des Koalitionsvertrages der neuen Regierung klare Zukunftsperspektiven für die Kommunalwirtschaft in Deutschland", beklagt sich Weil. "Wir werden die Bundesregierung auch in der Zukunft zu ihrem Bekenntnis einer starken kommunalen Selbstverwaltung beim Wort nehmen", kündigt er an. Man solle sich immer bewusst machen, dass die kommunale Wirtschaft mit einem Umsatz von 72 Milliarden Euro, jährlichen Investitionen von über 6 Milliarden Euro und der mittel- und unmittelbaren Verantwortung für rund 500.000 Arbeitnehmer in Deutschland ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. In der Energieversorgung sind Stadtwerke für den Verbandspräsidenten unerlässlich als zusätzlicher Wettbewerbsfaktor, als Klimaschützer und als regionaler Investor. Mit hocheffizienten Kraftwerken und dem Ausbau erneuerbarer Energien, aber auch im Bereich der Energieeffizienz und intelligenter Technologien bilden Stadtwerke nach Ansicht Weils ein dynamisches lokales Gegengewicht zum Oligopol der privaten Konzerne. Weil will den kommunalwirtschaftlichen Beitrag im angekündigten Energiekonzept 2010 der Bundesregierung verankert sehen. Sein Ziel ist auch eine verlängerte Wertschöpfungskette für die Kommunalen in der Energieversorgung. Dringend erforderlich für die anstehende Modernisierung des Kraftwerksparks und intelligenter, verlässlicher Elektrizitäts-, Erdgas- und Wärmenetze seien planungs- und investitionssichernde Rahmenbedingungen. Für die Wasserwirtschaft werde die Zusammenarbeit der Kommunen untereinander bei der Bewältigung der Herausforderungen insbesondere im ländlichen Raum eine steigende Rolle spielen. In der Abfallwirtschaft müsse die kommunale Zuständigkeit für die Entsorgung aller Haushaltsabfälle und der damit gemeinsam einzusammelnden Gewerbeabfälle klar geregelt werden. Ein erhebliches Problem stellen die rund 600 kommunalen Krankenhäuser dar. Das ist ein knappes Drittel der Kliniken in Deutschland. Während die landeseigenen Universitätskliniken hochtechnisiert sind und private Klinikgesellschaften sich vorwiegend auf lukrative Arbeitsfelder spezialisieren, bleibt für die kommunalen Krankenhäuser nur die Grundversorgung. Die daraus entstehenden Defizite sind der Preis für eine flächendeckende Daseinsvorsorge im Gesundheitsbereich, meint Frank Schulz-Nieswandt, der seit 1998 als Professor für Sozialpolitik an der Universität Köln lehrt. Kritik an der Wettbewerbsschwäche kommunaler Krankenhäuser hält er deswegen für unberechtigt. Wer die notwendigen Zuschüsse für kommunale Kliniken als unerlaubte staatliche Beihilfe bezeichne, verkenne die Situation der Krankenhäuser. Ein Anzeichen für eine kommunale Renaissance dieser Krankenhäuser sieht der Kölner Wissenschaftler in der zunehmenden Zahl von Kliniken in der Form einer Anstalt des öffentlichen Rechts, die trotz starker öffentlicher Bindung ein breites unternehmerisches Engagement zulassen.

Eine Wiederbelebung der kommunalen Wirtschaft auf breiter Front sieht der Kölner Sozialwissenschaftler allerdings noch nicht. "Hierzu fehlen uns belastbare langfristige Untersuchungen." Einige aktuelle Studien, so Schulz-Nieswandt, bestätigen aber "eine Präferenz der Bürger zu Sicherheit und Verlässigkeit". Dies gelte vor allem für Ver- und Entsorgungsleistungen sowie den Sozial- und Kulturbereich. "Aber niemand will die Amtsverwaltung zurück. Gefragt sind moderne Unternehmen mit allen Vorzügen der Privatwirtschaft bei effektiver öffentlicher Kontrolle der Tätigkeiten", sagt Schulz-Nieswandt. "Ich glaube, es gibt eine stabile bis wachsende Präferenz für öffentliche Unternehmen," legt sich der Kölner Wissenschaftler fest. Wie groß das Bedürfnis nach staatlicher Kontrolle in wichtigen Infrastrukturbereichen ist, zeige die Regulierung der Energienetze. Eine radikale Privatisierungskultur habe es in Deutschland eigentlich nie gegeben. Spielräume für weitere Privatisierungen auch in Deutschland biete dagegen der Entsorgungssektor.

Verantwortung der Kommunen

Experte Schulz-Nieswandt erhebt auch Forderungen an kommunale Unternehmen. Eine sehr verschachtelte Beteiligungspolitik in der Ver- und Entsorgung habe zu geringer Transparenz geführt und gefährde die Nähe zu den Bürgern. Auch sozial- und beschäftigungspolitisch tragen kommunale Unternehmen eine besondere Verantwortung, die nicht immer erfüllt werde. Die Verankerung der öffentlichen Daseinsvorsorge im europäischen Recht sei ein großer Schritt nach vorn. Allerdings dürfe man nicht übersehen, dass die Umsetzung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse grundsätzlich mit dem Binnenmarkt in Einklang stehen müsse. Damit seien Vorschläge der Kommission zur Ausschreibung öffentlicher Aufträge "noch nicht vom Tisch".