Piwik Webtracking Image

Endstation Sehnsucht

Afrika Der Journalist Fabrizio Gatti hat sich als Flüchtling auf den gefährlichen Weg nach Europa gemacht

10.05.2010
2023-08-30T11:25:55.7200Z
4 Min

Große Reportagen sind selten geworden. Reportagen mit langem Atem, geduldig und exakt recherchiert, stimmungsvoll und zugleich nüchtern die Fakten aufdeckend. "Bilal" von Fabrizio Gatti ist eine solche Reportage im Roman-Format, vergleichbar nur noch mit den großartigen Erzählungen des polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski, der Afrika mit Haar und Haut verschrieben war.

Bilal ist Gatti, Gatti ist Bilal, ein Deckname, unter dem der renommierte italienische Journalist die menschenverachtenden Machenschaften und Verbrechen der Schleuser aufdeckt, die Afrikas zu allem entschlossene Jugend den Himmel auf Erden in Europa versprechen.Dass viele dieser Verzweifelten nicht einmal bis an die Küste des Mittelmeers gelangen, sondern nach unvorstellbaren Strapazen bereits bei der Durchquerung der Wüste zugrundegehen, dass sie immer wieder überfallen oder an den Grenzstationen beraubt und geschlagen werden, und dass sie schließlich bei der waghalsigen Fahrt übers Meer in seeuntüchtigen Booten ihr Leben aufs Spiel setzen - das alles hat Gatti erlebt und erlitten. In einer mehrmonatigen Odyssee, in deren Verlauf er als "Illegaler" auf der berüchtigten Transitroute von Dakar aus nach Italien unterwegs war.

Gatti weiß, wie man brisante Themen anpackt; er mischte sich bereits unter falschem Namen unter afrikanische Erntehelfer, recherchierte in Obdachlosenquartieren und im gefährlichen Drogenmilieu. Aber eine noch so akribische Vorbereitung bewahrt auch den routiniertesten Journalisten nicht vor lebensgefährlichen Situationen und unterschätzten Strapazen. Gatti nahm diese auf sich, um über das Schicksal der Illegalen zu schreiben, über eine "neue soziale Schicht" im Europa des 21. Jahrhunderts.

Gründe für den Exodus

Schon in der senegalesischen Hauptstadt Dakar, wo er in Richtung Mittelmeer aufbricht, erfährt Gatti einen der Gründe für den afrikanischen Exodus. Seitdem die Netze der einheimischen Fischer leer bleiben, weil große Fabrikschiffe alles fangen, was es zu fangen gibt, verkaufen die Fischer ihre Boote an marokkanische Schleuser, die sie mit Auswanderern vollstopfen und Kurs Kanarische Inseln schicken. Ein großer Fischzug, der sich bezahlt macht - aber nur für skrupellose Schleuserbanden.

Seit Spanien von Marokko verlangt hat, die illegale Einwanderung zu stoppen, führt die Route der Auswanderer über Tripolis. Um dorthin zu gelangen, müssen Tausende von Wüsten-Kilometern überwunden werden, wie Vieh zusammengepfercht in klapprigen Lastwagen, nur mit dem Notwendigsten versehen. Wie eine Fata Morgana taucht die Hoffnung auf und verschwindet wieder. Wer es bis Agadez in Niger geschafft hat, dem steht das Schlimmste noch bevor, denn bis nach Libyen gibt es kaum mehr größere Ansiedlungen. Wer sich mit zu wenig Wasser eingedeckt hat, muss diesen Fehler nicht selten mit dem Leben bezahlen. Hastig aufgehäufte Steinhügel bezeugen diese Flüchtlingsdramen in einem von Not und Hunger gezeichneten Landstrich.

Allein von Agadez, so hat Gatti beobachtet, starten täglich rund 800 Menschen zur mörderischen Wüstentour. Ein besseres Geschäft können die Schleuser gar nicht machen. Gelingt es ihnen, 150 Migranten in einen Lkw zu quetschen, verdienen sie an ihnen 6.000 Euro. In seiner beklemmend dichten Reportage lässt der Autor genug Raum für Ursachenforschung, so wenn er daran erinnert, dass Europa dieser Region einst 20 Millionen Menschen geraubt und sie zur Sklavenarbeit auf dem amerikanischen Kontinent gezwungen hat. So sei ein Riss in der demografischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung der Sahelzone entstanden. Eine Schuld, die die reiche Welt bis heute nicht beglichen hat.

Dieser Riss wird noch breiter, wenn Afrikas von ihren korrupten Regimen enttäuschte Jugend heute ihr Heil in Europa sucht. Eine Jugend, die ihrer Heimat fehlen wird, auch wenn sie zugleich die einzige Hoffnung ist. Viele Familien in Mali, Burkina Faso und in Niger verkaufen ihr Hab und Gut, um die ungewisse Reise ihrer Söhne zu finanzieren. Wird das Geld reichlich zurückfließen, wenn der Sohn erst in Europa Arbeit gefunden hat?

Schreckliches Erwachen

Die Erwartung ist trügerisch, gelingt es doch nur wenigen, in einem europäischen Land Fuß zu fassen. Sind die Ankömmlinge den Schikanen libyscher Polizisten entronnen, geraten viele in italienische Auffanglager, wie beispielsweise in Lampedusa - für Tausende und Abertausende die Verkörperung ihres Lebenstraums. Das Erwachen aber ist schrecklich, die Carabinieri behandeln sie wie Kriminelle oder zwingen sie gar zur Rückkehr.

Mag die Regierung in Rom auch Menschenrechte einfordern; geht es aber darum, Auswanderer rüde abzuschieben, dann ziehen Italien und Libyen an einem Strang.

Gatti kann nachweisen dass alle an den Flüchtlingen, ihren eigenen Landsleuten, verdienen: Vor allem das Militär und die räuberische Polizei der Transit-Länder. Der Autor tritt ferner den Beweis an, dass nahe der libyschen Grenze die Drogenroute der nigerianischen Mafia entlangführt, die den internationalen Handel mit Kokain kontrolliert. Auch Waffen und modernste Technologien sollen auf diesem Weg nach Tripolis gelangen, das lange Jahre einem internationalen Embargo unterlag.

Eine packende Lektüre. Darüber hinaus könnten die Recherchen des Fabrizio Gatti eine Rolle spielen, wenn in Brüssel wieder einmal über die Migration aus Afrika diskutiert wird.

Fabrizio Gatti:

Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa.

Verlag Antje Kunstmann, München 2010; 460 S., 24,90 €