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Mr. Understatement

porträt Christian Wulff fühlt sich nicht als »Alphatier« - jetzt ist der konservative Patchwork-Vater Bundespräsident

05.07.2010
2023-08-30T11:26:00.7200Z
6 Min

Selten hat das traditionelle Sommerfest des niedersächsischen Ministerpräsidenten in Berlin so eine Aufmerksamkeit erfahren wie zu Anfang vergangener Woche. Sogar die britische BBC schickte ein Kamerateam, während 3.800 Gäste (gut ein Viertel mehr als gewöhnlich) die Außenanlagen der schlichten Landesvertretung in den Berliner Ministergärten belagerten: Präsidentengucken. Im Mittelpunkt stand ein etwas unsicher wirkender Christian Wulff, der mit Ehefrau Bettina von Stand zu Stand eilte, hier ein Spanferkel anschnitt, dort einen Kuchen, und jedem Gegenüber etwas Freundlich-Unverbindliches auf den Weg gab. Immerhin ließ sich Wulff, ganz gegen seine zurückhaltende Art sogar zu einer öffentlichen Gefühlsregung hinreißen. Dieser Abend, seufzte er, erfülle ihn doch mit Wehmut. Denn als Ministerpräsident hat Christian Wulff das große Sommerfest der Niedersachsen zum letzten Mal eröffnet. Am vergangenen Freitag gab er bereits wieder ein Sommerfest - diesmal allerdings als Gastgeber im Schloss Bellevue.

Erstaunliche Volte

Dieser Rollenwechsel ist die wohl erstaunlichste Volte im Leben eines Politikers, den sich manche auch gut im Kanzleramt hätten vorstellen können; auch wenn er selbst über sich in einem Interview einmal sagte, er sei gar kein "Alphatier", weil ihm der unbedingte Wille zur Macht fehle. Das wirkte damals kokett. Wulff führt heute ausgerechnet dieses Zitat an, um zu belegen, wie sehr ihm die vermittelnde und eher repräsentative Rolle eines Bundespräsidenten liege. In Hannovers Staatskanzlei gab es indes nie einen Zweifel, wer die Richtung vorgibt - Christian Wulff.

Zurückhaltend, aber durchaus bestimmend - so ist der 51-Jährige, der Niedersachsen sieben Jahre regierte. Understatement gehört zu diesem Mann, der nun zum Staatsmann werden will, wie die Zwiebel zum Matjes. Kürzlich veröffentlichte eine Wochenzeitung bei der Frage nach den ästhetischen Vorlieben des künftigen Bundespräsidenten eine kleine Stilkunde. Sie arbeitete heraus, dass der Herr Wulff gepflegte Anzüge von der Stange bevorzuge und bei Hemden eher zu mittelteuren Modellen greife. Nur die Frage nach der Marke von Wulffs Armbanduhr konnte das Blatt nicht beantworten. Das sei reine "Privatsache", entgegnete Wulffs Vertrauter Olaf Glaeseker. Die Zurückhaltung des "Spin doctors" Glaeseker ist gewiss in Wulffs Vorsicht begründet, bloß keinen Neid erregen zu wollen. Immerhin: Zumindest am Handgelenk fällt der vermeintlich so spröde Niedersachse aus der selbst gewählten Rolle des Unauffälligen, wie die "Financial Times Deutschland" einmal in einem Artikel über "Die Uhren der Macht" notierte. Wulff trägt eine edle Uhr, eine Rolex Oyster Cosmograph Daytona Stahl, "gekauft im Jahre 1978 für 825 Deutsche Mark". Angela Merkel trägt übrigens eine Boccia Titanium für 89 Euro.

Jugend ohne Vater

Daraus ist nun nicht zu schließen, wie die beiden Mächtigen wirklich ticken, die bei dieser Bundespräsidentenwahl die entscheidenden Rollen gespielt haben. Aber in diesen Tagen, in denen meist höchst Vernünftiges über Christian Wulff geäußert, gesendet und geschrieben wird, erscheint die eher nebensächliche Extravaganz nicht ohne Bedeutung. Zeigt sie doch, dass bereits der damals zum Bundesvorsitzenden der Schüler-Union gewählte 19 Jahre alte Christian Wulff, früher gerne als junger Wilder beschrieben, schon früh eine Vorliebe für noblen Handschmuck entwickelte.

Wer nur ein wenig in den Biografien über Wulff gelesen oder selbst von ihm gehört hat, wird daraus schwerlich Neidgefühle entwickeln wollen. Denn die Jugend dieses Christdemokraten war nicht leicht; geprägt von Pflichten, die keineswegs jeder so früh abzuleisten hat. Christian Wulff, mehr oder minder vaterlos in Osnabrück aufgewachsen, musste sich um seine Mutter kümmern, die an Multipler Sklerose erkrankt war. Und um die jüngere seiner beiden Schwestern. Wulff hat, so viel scheint klar, relativ früh "vernünftig" sein müssen - in einer Zeit, in der andere Jugendliche ihre Auf- und Ausbrüche erprobten. Er, der später Anwalt werden sollte, hat für den Unterhalt der Mutter gegen den Stiefvater auch juristisch gestritten. "Er hat damals erfahren müssen, dass er in prekären Lagen vor allem auf sich selbst gestellt ist - das mag auch erklären, wieso er immer etwas auf Abstand hält, übrigens ähnlich wie Angela Merkel", sagt ein früherer Mitstreiter des Niedersachsen. Wulffs Ausflüge aufs politische Parkett, das er zuerst als Bundesvorsitzender der Schüler-Union und später als Bundesvorstandsmitglied der Jungen Union betrat, dürften so als kleine Fluchten aus einer stark eingeschränkten Jugendzeit erscheinen. Wegen seiner kranken Mutter wird der spätere Jurastudent vom Wehrdienst freigestellt.

Politisch wächst Wulff in Osnabrück in einem Milieu heran, das in Niedersachsen auch als "Remmers-CDU" bezeichnet wird (nach dem früheren Landesumweltminister Werner Remmers). Es ist ein von der katholischen Soziallehre geprägter Konservatismus, der ebenso stark auf Selbsthilfe setzte wie auf Abgrenzung gegenüber dem völlig säkularisierten "evangelischen Lager".

Nicht traditionell konservativ

Mittlerweile sind diese Lager geschleift, auch eine Folge der Entkirchlichung der Gesellschaft. "Er ist kein traditionell Konservativer, auch wenn er eine relativ konservative Auffassung vom Staat hat", sagt Wulffs langjähriger Mitstreiter in Niedersachsens Landesregierung, der frühere Wirtschaftsminister Walter Hirche (FDP). Aber auf die oft geschmähten Sekundärtugenden wie "Fleiß, Verbindlichkeit, Pünktlichkeit" lege er großen Wert. "Vielleicht hat auch die schwere Kindheit zu dem überaus entwickelten Pflichtgefühl geführt", sagt Hirche.

Auf das wirklich besondere Maß an Pflichtgefühl hebt auch David McAllister ab, CDU-Landesvorsitzender und bereits am vergangenen Donnerstag gewählten Nachfolger im Ministerpräsidentenamt: "Wer Christian Wulff einmal auf einer Auslandsreise begleitet hat, weiß, was ich meine."

Als ernster Pflichtmensch, ja zuweilen als Bußprediger trat Christian Wulff in den Jahren nach 1994 als Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag in Erscheinung. Am dominanten und lebensfrohen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder arbeitete er sich immer wieder ab, um den einstmals verschmähten Gegner später in vielem zu kopieren. Zweimal verlor Wulff krachend Wahlen gegen Schröder, musste sich im Landtag viel Spott gefallen lassen, bis er 2003 im dritten Anlauf die Wahl in Niedersachsen gewann. 48,3 Prozent der Stimmen kassierte die CDU damals ein, als Rot-Grün in Berlin regierte.

Unsicherer als heute

"Wir nehmen für uns in Anspruch, als Entscheider angetreten und als Entscheider gewählt worden zu sein, und deshalb werden wir auch Entscheider sein, wenn wir auch manchen dadurch verunsichern mögen, dass wir das, was in unserem Wahlprogramm stand, nach der Wahl auch tatsächlich tun", hielt Wulff damals in seiner ersten Regierungserklärung fest - in "Wir"-Form und in einem merkwürdig geschraubten Satz. Tatsächlich trat der Ministerpräsident, der damals wesentlich unsicherer wirkte als heute, als entschlossener Reformer auf.

Mit einem Federstrich schaffte er mit den Bezirksregierungen eine gesamte Verwaltungsebene ab. "Die Reform hat er allerdings nicht zu Ende geführt, sondern uns eine ziemliche Baustelle hinterlassen", moniert der Grüne Stefan Wenzel, der anfangs Wulffs Entschlossenheit noch gut fand. Unverkrampft machte sich Wulffs CDU-FDP-Regierung auch an andere Tabus heran und schaffte sowohl die Lernmittelfreiheit wie die Orientierungsstufen an den Schulen ab, was die SPD ihm noch heute verübelt. "In der Schulpolitik ist er ein konservativer Ideologe geblieben", sagt der niedersächsische SPD-Landtagsfraktionschef Stefan Schostock.

Milde statt Sarkasmus

Der Ministerpräsident sei in vielen Dingen milder geworden, heißt es dagegen unter Wulffs Mitstreitern. Er, der früher durchaus sarkastische Bemerkungen über den Ministerpräsidenten Schröder machen konnte, ließ sich von seiner ersten Frau Chrstiane scheiden und ging eine zweite Ehe mit der 14 Jahre jüngeren Medienreferentin Bettina Körner (jetzt Wulff) ein. Die hatte er 2006 kennen- und lieben gelernt, als seine Ehe mit Christiane nach 18 Jahren auseinandergegangen war. In verschiedenen Ozeanen habe man navigiert, sagte Wulff damals. Die neue Frau Bettina brachte aus einer früheren Beziehung einen Sohn in die neue Ehe mit, sodass sich die Wulffs heute als Patchwork-Familie im Schloss Bellevue präsentieren können. Durch geschickte Medienarbeit seines Beraters Glaeseker (und dank einer toleranteren Öffentlichkeit) nahm das Image des einst als Schwiegermutters Liebling erscheinenden Christdemokraten keinen Schaden.

In der zweiten Amtsperiode Christian Wulffs in Niedersachsen wirkte die Regierung wesentlich saft- und kraftloser als zu Beginn. Lediglich mit seiner radikalen Kabinettsumbildung im April dieses Jahres machte Wulff bundesweit auf sich aufmerksam. Unter anderem holte er bei der Rochade mit Aygül Özkan eine türkischstämmige Muslimin als Sozialministerin ins niedersächsiche Kabinett.

Damals, der Rücktritt von Horst Köhler war noch nicht zu ahnen, orakelte bereits eine große Tageszeitung, Wulff habe vielleicht das Bundespräsidentenamt im Sinn. Sie sollte recht behalten - wie sich vergangene Woche erwiesen hat.