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»Die Türkei ist enttäuscht«

RUPRECHT POLENZ UND ELMAR BROK Seit elf Jahren stellt die EU der Türkei einen Beitritt in Aussicht. Seitdem wird darüber heftig gestritten - selbst …

26.07.2010
2023-08-30T11:26:01.7200Z
7 Min

Meine Herren, Sie gehören beide der selben Partei an, in Sachen EU-Beitritt Türkei vertreten Sie aber gegensätzliche Meinungen. Sie, Herr Polenz, befürworten den Beitritt. Wie geht es Ihnen mit dieser Außenseiterposition in der CDU?

Ruprecht Polenz: Mir ist klar, dass ich nicht die Mehrheitsmeinung der CDU vertrete. Allein aber bin ich mit meiner Meinung in der Union auch nicht. Da sind zum Beispiel eine ganze Reihe Oberbürgermeister von Großstädten wie Frankfurt, Stuttgart, Duisburg oder wie bis vor kurzem Ole von Beust aus Hamburg. Sie erleben in ihren Städten, welche Bedeutung der Umgang mit der Türkei im Hinblick auf den EU-Beitritt für die türkische Bevölkerung hat. Sie teilen meine Position, dass die Türkei eine faire Chance verdient.

Elmar Brok: Na ja, fair wäre gewesen, der Türkei keine falschen Hoffnungen auf einen Beitritt zu machen. Jetzt zieht sich alles hin und die Türkei reagiert enttäuscht.

Herr Brok, warum sind Sie gegen einen Beitritt der Türkei?

Brok: Ich sehe das aus der Gesamtsicht der Europäischen Union heraus und glaube, dass ein Beitritt die EU überfordern würde. Die Integrationskapazität der EU reicht nicht aus, wenn wir sie weiterhin als eine politische Union verstehen wollen.

Polenz: Natürlich darf die Handlungsfähigkeit der EU durch einen Beitritt der Türkei nicht in Frage gestellt werden. Es ist nur so, dass bei jeder Erweiterungsrunde die Frage war: Kann das die Europäische Union verdauen oder nicht? Darüber wurde auch beim Beitritt Großbritanniens diskutiert, wenn Sie weiter zurückschauen wollen. Damals war Frankreich der Meinung, das würde das ganze Machtgefüge innerhalb der Europäischen Union verändern. Präsident Charles de Gaulle hat mit der Politik des leeren Stuhls den Beitritt Großbritanniens um eine beträchtliche Zeit verzögert.

Brok: Vielleicht hat er ja Recht gehabt.

Polenz: Das glaube ich unterm Strich nicht.

Brok: … war auch nicht ganz ernst gemeint.

Polenz: Zurück zur Türkei: Ich wundere mich so ein bisschen. Die Staats- und Regierungschefs haben 2004 einstimmig entschieden, mit der Türkei über einen Beitritt zu verhandeln. Das Ziel der Verhandlungen ist ihr Beitritt zur EU. Aus der Sicht des einen oder anderen Europapolitikers spielt das aber offensichtlich überhaupt keine Rolle mehr.

Brok: Ich muss mich da nicht angesprochen fühlen, weil ich schon damals dagegen war. Ich habe nämlich in der Tat befürchtet, dass wir wegen verschiedener, langwieriger Reformprozesse in der Türkei, die nicht schnell genug vorangehen, die Türkei hinhalten und enttäuschen würden. Das ist ja genauso auch eingetreten.

Das Argument der Aufnahmefähigkeit hört man immer nur im Bezug auf einen Beitritt der Türkei. Gilt diese Sorge nicht, wenn viele kleine Länder beitreten wollen? Kroatien und Island stehen ja direkt vor der Tür.

Brok: Gerade die Tatsache, dass seit 2004 zwölf Länder hinzugekommen sind, macht jetzt erstmal eine Phase der Konsolidierung notwendig. Das ist vergleichbar mit Unternehmen, die, wenn sie schnell wachsen, eine Pause in der Wachstumsphase machen müssen. Wenn nicht alles zerstört werden soll, gilt das gleiche heute genauso für die Europäische Union.

Die Türkei kann nicht beitreten, aber gleichzeitig hebt man Island in den Kandidatenstatus. Wird da nicht mit zweierlei Maß gemessen?

Brok: Was die weitere Erweiterung angeht, geht das inzwischen sehr viel vorsichtiger, sehr viel konditionierter, weil wir beispielsweise schlechte Erfahrung bei dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien gemacht haben. In diesen beiden Fällen würde man heute sicherlich vorsichtiger sein, als man das mit den Beschlüssen Mitte des vergangenen Jahrzehnts war. Im Hinblick auf die Türkei ist auch die Größe des Landes nicht zu unterschätzen. Außerdem unterscheidet sie sich in vielen Bereichen sehr von der EU, wie sie heute ist, auch wenn formal viele Gesetze inzwischen in großartiger Weise angepasst worden sind.

Polenz: Mich überzeugen Ihre Argumente nicht. Natürlich muss auch die Türkei die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen, die festlegen, was die Kandidatenländer leisten müssen. Sie muss eine rechtsstaatlich verfasste Demokratie sein, sie muss die Menschenrechte achten, Minderheiten schützen und sie muss eine Wirtschaft vorweisen, die dem Wettbewerbsdruck in der Europäischen Union stand halten kann. Diese Kriterien gelten für alle Länder in gleichem Maße. Aber die Sorge, dass die Europäische Union nicht mehr handlungsfähig ist, wird nur in Richtung eines Beitritts der Türkei geäußert. Eine Phase der Konsolidierung ist wichtig. Nur muss dieser Hinweis dann für alle Kandidatenländer gleichermaßen gelten.

Brok: Die Kriterien gelten für alle gleich. Ich habe aber meine Zweifel, ob sie in der Praxis in der Türkei auch bei formaler Umsetzung voll angewandt werden. Die Werte der Charta der Grundrechte müssen auf eine besondere Bereitschaft, besondere Mentalität treffen. Wenn ich mich irren sollte, umso besser. Allerdings sind wir uns einig über die große strategische Bedeutung der Türkei. Wir unterscheiden uns darin, wie wir ihr gerecht werden können.

Was schwebt Ihnen vor? Die berühmt berüchtigte "privilegierte Partnerschaft"?

Brok: Ich meine, dass wir noch einmal genauer in den Beitrittsvertrag hineinschauen sollten. Da steht drin, das Ziel ist der Beitritt oder - wenn es im Rahmen der Verhandlungen oder beim Ratifikationsprozess Schwierigkeiten gibt-, eine höchstmögliche andere Bindung. Allerdings würde ich das in Zukunft nicht mehr als privilegierte Partnerschaft beschreiben. Das ist ein verbrannter Begriff, der in der Türkei als diskriminierend betrachtet wird.

Polenz: Ah, ich sehe, mein Buch hat erste Früchte getragen. Aber Diskriminierung ist ein gutes Stichwort. Es kann ja gut sein, dass die Türkei während der Beitrittsverhandlungen selbst zu dem Ergebnis kommt, dass sie sich doch nicht so sehr ändern will in einigen Punkten, wie es für einen Beitritt nötig wäre. Dann könnte man einvernehmlich über eine andere Anbindung an die EU nachdenken. Aber im Augenblick läuft die Diskussion gerade auch in meiner eigenen Partei in die Richtung, dass wir uns jetzt einseitig von den gemachten Zusagen verabschieden. Das halte ich für einen gravierenden strategischen und politischen Fehler. Das ist diskriminierend.

Brok: Aber es geht doch auch anders. Ich möchte einen Punkt ansprechen, den wir bereits in der Vergangenheit als Lösung diskutiert haben. Eine Lösung, die auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor kurzem selbst in einer Rede angesprochen hat, nämlich die Norwegen- Lösung...

...also einer Erweiterung des europäischen Wirtschaftsraumes...

Brok: Ja, das könnte auch eine Option für weitere Länder wie die Ukraine oder Georgien sein, Sie hätten dann alle Vorteile, wären aber trotzdem kein EU-Mitglied. Norwegen, die Schweiz, Island - die drei sind keine Mitglieder der EU, aber sie sind Mitglieder des Binnenmarktes und Teil des Schengen-Gebietes...

...innerhalb dessen die Personenkontrollen an den Grenzen wegfallen...

Brok: Das heißt, die Länder haben weitestgehend all die Annehmlichkeiten, die für die Bevölkerung spannend und interessant sind, die die europäische Perspektive für sie lohnend machen.

Polenz: Aber gerade Island hat das nicht mehr gereicht. Sie wollen jetzt in die Europäische Union. Und auch für die Türkei gibt es einen großen Unterschied zwischen der Mitgliedschaft in der Zollunion und einer möglichen EU-Mitgliedschaft. Der wirtschaftliche Aufholprozess, den die Türkei zurücklegt, hängt unmittelbar mit den Beitrittsverhandlungen zusammen. Und das ist aus der Sicht von Investoren auch verständlich. Denn in dem Moment, wo sie davon ausgehen können, dass die Türkei auf Kurs bleibt bei den Reformen und - jedenfalls irgendwann mal - Mitglied der Europäischen Union wird, besteht ein ganz anderes Maß an Investitionssicherheit, als wenn ein solcher Prozess nicht stattfinden würde.

Die EU schafft Vertrauen...

Polenz: ...und noch mehr. Wir haben ja alle gemeinsam zwei Sorgen und die Mehrheit der Türken hat diese beiden Sorgen auch: Die beiden Versuchungen für die türkische Politik sind derzeit ein übersteigerter Nationalismus und die Gefahr des Abgleitens in einen politischen Islamismus. Hier wirkt der EU-Prozess wie eine Art Leitplanke gegenüber beiden Versuchungen und hält die Türkei auf Kurs. Damit will ich nicht sagen, dass die Türkei ansonsten automatisch im Graben landen würde, wenn der EU-Prozess nicht wäre. Auch ein Autofahrer bleibt gelegentlich auf der Straße selbst wenn rechts und links keine Leitplanken sind. Aber wenn sie da sind, fährt er sicherer. Das dürfen wir nicht gefährden und nicht abbremsen von unserer Seite.

Sie haben gerade das Stichwort Islamismus genannt. Ist eine diffuse Angst vor dem Islam der eigentliche Grund für die Skepsis gegenüber der Türkei?

Polenz: Es wird immer argumentiert: Wir gehören zum christlichen Abendland und zu dem habe die Türkei nie gehört. Daraus wird abgeleitet, dass sie nicht zur Europäischen Union gehört. Das kann nicht das Argument sein.

Brok: Natürlich kann der Islam kein Argument gegen einen Beitritt sein. Aber die sachlich begründeten Bedenken unserer Bürger, was Religionsfreiheit, Minderheitenrechte, Nicht-Diskriminierung angeht, müssen doch auch ernst genommen werden. Dazu gehören auch die Unabhängigkeit der Justiz und die Europafähigkeit der regionalen und lokalen Behörden.

Polenz: Aber wir müssen eben auch deutlich machen, dass es doch gerade die Idee Europas ist, mit unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen friedlich zusammen leben zu können. Genau darin läge eben für mich auch der besondere Gewinn, wenn die Türkei die Kopenhagener Kriterien voll erfüllt.

Was genau meinen Sie mit Gewinn?

Polenz: Die Türkei würde zeigen, dass Islam und Demokratie zusammenpassen. Sie wäre damit auch ein Modell für viele andere islamische Länder auf der Welt, die noch nach ihrer richtigen Regierungsform suchen. Die EU will keinen Kampf der Kulturen und dafür wäre die Mitgliedschaft der Türkei ein starkes Signal.

Das Interview führte Nicole Tepasse.