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Am Tropf des Westens

AUFBAU OST Trotz Transfers von 1,2 Billionen Euro droht ein deutsches Mezzogiorno

06.09.2010
2023-08-30T11:26:03.7200Z
5 Min

Als Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in seiner Fernsehansprache zur Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion von blühenden Landschaften in der zusammengebrochenen DDR sprach, verknüpften viele Menschen damit die Hoffnung auf eine schnelle wirtschaftliche Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern, verbunden mit steigendem Wohlstand für alle. Das war 1990, getragen von einer Wiedervereinigungseuphorie in breiten Teilen der Gesellschaft. 20 Jahre später fällt die Bilanz eher ernüchternd aus: "Es wird Jahrzehnte dauern, bis die neuen Länder wirtschaftlich den Anschluss an den Westen geschafft haben", prognostiziert der Leipziger Volkswirtschaftsprofessor Ullrich Heilemann.

Dabei hatte die Regierung Kohl nach der Wiedervereinigung einen in der Geschichte beispiellosen Transferprozess in Gang gesetzt, der - wenn überhaupt - nur mit den Marshallplan-Hilfen der USA zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Westzonen vergleichbar ist. Über den Fonds Deutsche Einheit etwa erhielten die neuen Länder von 1990 bis 1994 allein nicht zweckgebundene Leistungen von insgesamt 82,2 Milliarden Euro. 1995 trat der zwischen Bund und Ländern vereinbarte Solidarpakt I in Kraft, nach seinem Auslaufen Ende 2004 gefolgt vom Solidarpakt II, in dessen Rahmen der Bund bis 2019 insgesamt 156 Milliarden Euro bereit stellt.

Alles in allem kostete der Aufbau Ost nach Angaben des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle bisher etwa 1,2 Billionen Euro. Rund 75 Milliarden Euro beträgt demnach der jährliche Nettotransfer, obwohl die Infrastruktur inzwischen vielfach besser ausgebaut ist als im Westen. "Wir werden trotzdem über eine unabsehbare Zeit hinaus weiter auf Ausgleichszahlungen angewiesen sein", sagt der Sprecher der ostdeutschen Unternehmerverbände, Hartmut Bunsen. Der Chef des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, vertritt gar die These, dass Ostdeutschland zum deutschen Mezzogiorno werde, das dauerhaft auf die Alimentierung des Westens angewiesen bleibt.

Hintergrund ist die kontinuierliche Wachstumsschwäche in den neuen Ländern, die einen flächendeckenden Aufholprozess unmöglich zu machen scheint. Das unterstreicht eine Pilotstudie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Danach rücken lediglich Sachsen und Thüringen an die Wachstumsdynamik Bayerns und Baden-Württembergs heran. Der Rest inklusive Berlins hinkt dagegen seit Mitte der 1990er Jahre hinterher. Insgesamt betrachtet haben selbst die osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten die neuen Bundesländer überholt. "Die gestiegene Exportquote zeigt aber, dass sich die Leistungsfähigkeit im verarbeitenden Gewerbe verbessert. Nur wenn es uns gelingt, dies nachhaltig zu verstetigen, geht es bergauf und können Rückschritte kompensiert werden", sagt der Präsident der Leipziger Industrie- und Handelskammer (IHK), Wolfgang Topf.

Krise am Bau

Er spielt damit auf die hausgemachte ostdeutsche Krise am Bau an. War die Branche Anfang der 1990er Jahre noch Antriebsfeder für einen überproportionalen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Osten, platzte 1995 die Immobilienblase, als die steuerliche Förderung auslief. Das versetzte dem Aufholprozess einen herben Rückschlag. Jahrelang wurde oft am Bedarf vorbei in Immobilien investiert, die später wieder leer standen. Kommunen stampften luxuriöse Spaßbäder, für die es keine ausreichende Kundschaft gab, aus dem Boden oder bauten überdimensionierte Kläranlagen, die die Bürger mit hohen Gebühren belasten. "Nach Fertigstellung der Prestigeprojekte war vielerorts endgültig Schluss mit lustig und kein Geld mehr für neue Investitionen da", bilanziert Bunsen.

Folge: Die ostdeutsche Wirtschaft fiel hinter die Wachstumsraten der westdeutschen zurück und hat nicht mehr auf die Überholspur zurückgefunden. Weder der Dienstleistungsbereich noch die langsam in Fahrt kommende Industrie konnten den Niedergang des Bausektors ausgleichen. Damit wurde - großzügig gerechnet - das wirtschaftliche Ost-West-Leistungsverhältnis seit 15 Jahren festgeschrieben.

Hinzu kam vielerorts eine verfehlte Ansiedlungspolitik. Beispiel Leipzig: Die ehemals reichste Stadt des Deutschen Reiches sollte sich nach den Vorstellungen von Ex-Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD) zu einem Finanz- und Dienstleistungszentrum in Konkurrenz zu Frankfurt am Main entwickeln. Die Strategie schlug fehl, mit fatalen Folgen. Während Chemnitz mit konsequenter Industrie-Förderung und Dresden mit der Chipindustrie zu Wachstumsmotoren wurden, die inzwischen mit westdeutschen industriellen Kernzonen konkurrieren, kämpft Leipzig mit Arbeitslosenzahlen um die 15 Prozent.

Wie gravierend die Unterschiede zwischen Ost und West sind, belegen wirtschaftliche Rahmendaten. So waren etwa die Kosten je geleisteter Arbeitsstunde 2008 in Ostdeutschland um rund 28 Prozent niedriger als im Westen. Während die Arbeitgeber in den alten Bundesländern durchschnittlich 29,95 Euro zahlten, waren es in den neuen Ländern 21,09 Euro. Das Einkommens- und Rentenniveau im Osten ist erst auf 75 Prozent des westdeutschen angewachsen. Der Produktivitätsabstand stagniert seit einigen Jahren.

Niedrige Gehaltsstrukturen

Auch deshalb hat Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) kürzlich vor zu hohen Tarifabschlüssen im Osten gewarnt. "Das vergleichsweise niedrigere Lohnniveau", konstatiert Unternehmer Bunsen, "ist noch einer unserer wenigen Trümpfe, um konkurrenzfähig zu bleiben". Kleine und mittlere Unternehmen könnten schon wegen ihrer Kapitalschwäche auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mit den westlichen Wettbewerbern konkurrieren.

Das betrifft aber nur einen Teil der Ost-Betriebe, deren Gros nämlich tariflich nicht gebunden ist. Die Gehaltsstrukturen sind entsprechend niedrig. Verdienen im Osten 50 Prozent der abhängig Beschäftigten einen Stundenlohn von knapp 12 Euro, sind es im früheren Bundesgebiet 3 Euro mehr. Die am besten bezahlten 10 Prozent gehen im Osten mit mindestens 21 Euro in der Stunde nach Hause, im Westen allerdings mit mehr als 27 Euro. Ausgeprägt ist zudem der Anteil der Geringverdiener. Jeder fünfte abhängig Beschäftigte verdient in den neuen Ländern weniger als 7,50 Euro je Stunde, in den alten nur jeder zwölfte. Das verfügbare Haushaltseinkommen liegt etwa ein Viertel niedriger als in Westdeutschland.

Teufelskreislauf im Osten

Dass das niedrige Lohnniveau den privaten Konsum bremst und so die Binnenwirtschaft zusätzlich schwächt, ist eine Binsenweisheit. Verschärft werde das Konjunkturproblem, argumentiert Volkswirt Heilemann, durch die negative demografische Entwicklung. Per saldo hätten die neuen Länder seit der Wiedervereinigung 1,8 Millionen gut ausgebildete Fachkräfte vorwiegend an Bayern und Baden-Württemberg verloren. Damit werde ein Teufelskreislauf in Gang gesetzt: Neben dem Kaufkraftverlust fehlten der ostdeutschen Wirtschaft wichtige Fachkräfte für den Aufschwung, während die Wirtschaft der alten Länder von den im Osten geleisteten Bildungsausgaben profitierten. "Damit werden die neuen Bundesländer gleich zu Verlierern in zweifacher Hinsicht", meint Heilemann. Seine Schlussfolgerung: Das Ausbluten müsse in einer Gemeinschaftsanstrengung gestoppt werden.

Ein Ende des Bevölkerungsschwundes ist folglich ein Schlüssel, um überhaupt nachhaltiges Wachstum generieren zu können. Die Förderung innovativer Industriezweige und eine konsequente Ausweitung der Forschungs- und Entwicklungsmittel sind nach Auffassung des Leipziger IHK-Präsidenten Topf deshalb unverzichtbar, weil sie eine Magnetfunktion haben. Das ersatzlose Auslaufen der Ost-Förderung im Jahr 2019 sei daher unrealistisch. "Die Zeit der Großansiedlungen ist vorbei. Ein neues BMW-Werk oder die Verlegung eines DHL-Drehkreuzes wird es so schnell nicht mehr geben", sagt Topf. Auch werde kein Konzern wegen der im Vergleich niedrigeren Lohnstückkosten die Produktion nach Ostdeutschland verlagern. Nur wenn der Mittelstand technologisch eine Vorreiterrolle einnehme, könne der Osten die West-Wirtschaft einholen - und dies nur in den bereits herausgebildeten Wirtschaftszentren. "Deshalb ist es naiv zu glauben, die Marktwirtschaft allein regelt alles", warnt Bunsen.

Der Verfasser leitet das Wirtschaftsressort der "Leipziger Volkszeitung".