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Politische Abstinenz

DEMOKRATIE Das Recht auf freie Wahlen haben sich die DDR-Bürger selbst erkämpft. Gleichwohl liegt die Wahlbeteiligung im Osten stabil unter der im Westen

06.09.2010
2023-08-30T11:26:03.7200Z
5 Min

Als Joachim Gauck im Juni für das Bundespräsidentenamt kandidierte, begeisterte er viele mit seinen Erinnerungen an den demokratischen Aufbruch in der Wende-DDR. Ein zentrales Datum war für ihn die erste freie Volkskammerwahl vom 18. März 1990: Mit Tränen in den Augen schilderte er noch 20 Jahre danach seine Empfindungen auf dem Weg ins Wahllokal: "Alle Freiheit Europas war in das Herz des Einzelnen gekommen. Ich wusste: Nie, nie und nimmer wirst du auch nur eine Wahl versäumen."

Eine überwältigende Mehrheit seiner Landsleute nutzte an diesem 18. März mit ihm das neue Recht: 93,4 Prozent der DDR-Bürger gaben ihre Stimme ab. Doch mit seinem Bekenntnis zum immerwährenden Wählen konnten und können wesentlich weniger etwas anfangen. Schon neun Monate später, bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990, sank die Beteiligung im Osten um fast 20 Prozent auf 74 Prozent; bei der letzten Bundestagswahl 2009 kam sie auf ihrem bisherigen Tiefpunkt von 64,7 Prozent an. Nun ist der Rückgang der Wahlbeteiligung kein Ost-Phänomen: In ganz Deutschland lässt seit Jahren die Bereitschaft nach, das Wahlrecht als Bürgerpflicht zu begreifen. 2009 lag die Beteiligung im Westen bei 72,2 Prozent, auch dies ein Tiefpunkt seit 1949.

Aber auffällig ist die über 20 Jahre stabil gebliebene Differenz zwischen West und Ost doch. Sie beträgt im Schnitt 5,3 Prozent, was ein signifikanter, wenn auch noch kein wirklich Besorgnis erregender Wert ist. Anders sehen Einzelergebnisse aus, wie das der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2006, an der sich nur noch 44,4 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt haben. Solche Resultate - in diesem Ausmaß bislang nur im Osten zu verzeichnen - lassen manche nach der Legitimation der aus diesen Wahlen hervorgehenden Regierungen fragen.

Mentale Misere

Es ist also angebracht, im 20. Jahr der Einheit der Frage nachzugehen, woher die größere politische Abstinenz im Osten rührt und weshalb die Werte sich im Laufe der gemeinsamen Jahre von Ost und West im gemeinsamen Staat nicht annähern. Es ließe sich ja auch die These vertreten, dass die einstigen DDR-Bürger nach so langer Unmündigkeit nun erst Recht von den Möglichkeiten der demokratischen Willensbildung, der Einflussnahme auf das politische Geschehen und Machtgefüge Gebrauch machen würden. So, wie bis in die 1980er Jahre immer weit mehr als 80 Prozent der Westdeutschen ihre Stimme bei Bundestagswahlen abgaben.

Dabei wurde ihnen die Demokratie von den westalliierten Siegern des Zweiten Weltkrieges praktisch aufgezwungen, während die DDR-Bürger die Fesseln der SED-Diktatur selber sprengten. Ähnlich wie Gauck erlebte der Ost-Berliner Schriftsteller Thomas Brussig die Wendezeit: "Die Ostdeutschen waren politisch wie elektrisiert, waren interessiert, engagiert." Ursache dafür, dass diese Begeisterung so schnell erlosch, ist laut Brussig, dass die Westdeutschen den Ostdeutschen das Grundgesetz übergestülpt hätten: Statt der Vereinigung per Volksabstimmung über eine neue Verfassung, wie im Grundgesetzartikel 146 vorgesehen, hätten sie den als erniedrigend empfundenen Beitritt nach Artikel 23 forciert, beklagt Brussig und sieht darin den Hauptgrund für die politische Verdrossenheit im Osten. "Hier gibt es nach wie vor kein anderes Thema als den Einheitsschock und die Folgen", notierte er 2009 im Magazin "Cicero".

Der gravierende Unterschied im politischen Engagement dürfte seine Ursache im mentalen Bereich haben: Sehr viele Ostdeutsche begreifen auch heute die Bundesrepublik nicht als ihren Staat, als ihr Projekt, für das einzusetzen sich besonders lohnen würde. Das scheint auf jeden Fall eine wesentlich schlüssigere Erklärung zu sein als jene, die der Politologe Oskar Niedermeyer für die niedrigere Wahlbeteiligung anbietet: "Das kann immer noch eine Reaktion auf die Zwangspolitisierung der DDR sein."

Die mentale Misere dokumentiert der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer in seiner Langzeitstudie "Deutsche Zustände". Danach fühlen sich noch immer 64 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" zitiert in einem Sonderheft zum Jahrestag der Deutschen Einheit den Leipziger Soziologen Raj Kollmorgen, der die Struktur der bundesdeutschen Elite untersucht hat: Danach machen die Ostdeutschen zwar 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, stellen aber weniger als 5 Prozent der Führungskräfte in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Signifikant ist das beim politischen Führungspersonal der Republik zu beobachten. Zwar ist die Kanzlerin eine Ostdeutsche, doch bemüht sich Angela Merkel geradezu demonstrativ, dieser Herkunft keinerlei Raum in ihrem Auftreten zu lassen. Sie stellt sich als die idealtypische Gesamtdeutsche dar, was einerseits gewiss eine erstrebenswerte Figur ist. Sie nimmt den Ostdeutschen damit anderserseits jede spezifische Identifikationsmöglichkeit. Bemerkenswert ist, dass Merkel bei entsprech- ender Gelegenheit gern von "den ehemaligen DDR-Bürgern" spricht und nicht etwa sagt: "Wir ehemalige DDR-Bürger". Wahrscheinlich war auch dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber die Herkunft Merkels nicht mehr präsent, als er 2005 seine schon legendäre Aussage formulierte: "Ich akzeptiere nicht, dass der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Die Frustrierten dürfen nicht über die Zukunft Deutschlands bestimmen."

Da dürfte er froh sein, dass in Merkels Kabinett sonst kein Ostdeutscher sitzt, ebenso wie im Bundesverfassungsgericht. Es sagt auch etwas über die deutsche Politik aus, dass erst 20 Jahre nach der Einheit die erste Ostdeutsche in ein westdeutsches Landeskabinett berufen wurde: Johanna Wanka aus Brandenburg, die jetzt Kultusministerin in Niedersachsen ist. All dies spricht für mangelhafte politische Integration der Ostdeutschen in das System der Bundesrepublik.

Desinteresse junger Menschen

Zu den gesamtdeutschen, aber im Osten noch ausgeprägteren Phänomenen zählt, dass das Engagement weiter sinkt, je niedriger die politische Ebene ist. An der Wahl des Leipziger Oberbürgermeisters nahmen 2006 nur 31,7 Prozent der Berechtigten teil. Die erste Direktwahl der Landräte in Brandenburg geriet im Januar 2010 zum Fiasko, mit einer Beteiligung zwischen 20 und 27 Prozent. Vielerorts haben die Parteien Probleme, überhaupt Kandidaten für Kommunalparlamente aufzustellen. Ein Grund liegt gewiss darin, dass die westdeutschen Volksparteien CDU und SPD im Osten in der Fläche nur gering verankert sind, sie sind keine wirklichen Mitglieder-, sondern Funktionärsparteien. Eigentliche Volkspartei ist hier Die Linke. Was immer man von ihrem Programm halten mag - sie hat es vermocht, erhebliche Teile der DDR-Eliten dauerhaft an die demokratischen Strukturen der Bundesrepublik zu binden und somit die Beteiligung von Gruppierungen an Wahlen und demokratischen Willensbildungen zu sichern, die sonst womöglich verloren wären. Gleiches lässt sich für die heute an Die Linke gebundenen Kräfte im Westen sagen, die sich von der SPD abgewandt haben.

Die Sorge, dass auf der anderen Seite westdeutsche Rechtsextremisten der NPD und DVU nachhaltig von Desillusionierung und geringer Wahlbeteiligung im Osten profitieren könnten, hat sich indes nicht bestätigt. Nur in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen halten sich kleine NPD-Fraktionen mit wenig Strahlkraft in den Landtagen. Gewachsen ist dagegen offenbar die Gefahr der gesellschaftlichen Unterwanderung, vor allem in der Kinder- und Jugendbetreuung.

So unterschiedlich sich also die mentale Lage in West und Ost und die daraus folgenden politischen Verhältnisse auch 20 Jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten darstellen, lässt sich doch eine Gemeinsamkeit feststellen. Sie ist allerdings keineswegs beruhigend: Es ist das gesamtdeutsch überdurchschnittlich zunehmende Desinteresse junger Menschen an politischer Teilhabe über Wahlen. Auch hier liegt freilich der Osten tendenziell vorn: Die 21- bis 24-Jährigen hatten bei der Bundestagswahl 2009 insgesamt mit 59,1 Prozent die geringste Wahlbeteiligung aller Altersgruppen. Besonders niedrig aber war die Beteiligung ostdeutschen Frauen (52,7 Prozent) und Männer (53,1 Prozent) dieser Altersgruppe. Dies dürfte in der Perspektive die noch größere Herausforderung für die Demokratie in diesem Land darstellen als die Ost-West-Differenz. Denn für die Stabilität der demokratischen Gesellschaft ist von entscheidender Bedeutung, wie es ihr gelingt, nachrückende Generationen aktiv an das politische System zu binden.

Der Autor ist Korrespondent der

DuMont-Redaktionsgemeinschaft.