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Das geopolitische Kleeblatt

EUROPAS BÜNDNISSE In einer soliden Partnerschaft mit Russland und der Türkei schlummert ungenutztes Potenzial

20.12.2010
2023-08-30T11:26:12.7200Z
7 Min

Eine Strategie mag klug formuliert sein, gemessen wird sie am Ergebnis. Vielleicht wird man eines Tages darüber rätseln, warum die Teilnehmer der Lissaboner Gipfel-Wallfahrt das neue NATO-Konzept mit all den darin aufgeführten "neuen Bedrohungen" absegneten, ohne die viel weitergreifende psychologische und sicherheitspolitische Herausforderung in den Blick zu nehmen, vor der die Europäische Union und ihre Mitglieder stehen. Mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht und der Hinwendung der USA zum pazifischen Raum verliert der alte Kontinent seine zentrale Rolle in der Weltpolitik, die er über 500 Jahre beansprucht hatte. Europas Einfluss in der Welt steht auf der Kippe. Es sieht sich mit tektonischen Verschiebungen im globalen Machtgefüge konfrontiert, die seinen Wohlstand von Entscheidungen abhängig machen, die anderswo getroffen werden. Noch ist die EU mit ihren 500 Millionen Einwohnern, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, der größte Binnenmarkt der Welt. Aber ihre Eliten und große Teile der Bevölkerung weigern sich, taktische, nationale Interessen zugunsten langfristiger Ziele aufzugeben. Auch setzen sie der zunehmenden Renationalisierung ihr Gegenteil, eine intensivierte Zusammenarbeit ohne Wenn und Aber, nicht entgegen.

Nicht über den Tag hinaus

Die eigentliche Wurzel der Misere liegt im Unvermögen der europäischen Institutionen, politische Prozesse über den Tag hinaus zu steuern. Europas führende Politiker hantieren mit einem Instrumentarium, das nicht wirklich funktioniert und entsprechend wenig Eindruck macht. Es ist bezeichnend, dass sowohl die vom Renationalisierungsfuror erfassten Staaten der Europäischen Gemeinschaft wie auch deren nächstliegende Partner Russland und die Türkei an den vorhandenen europäischen Institutionen vorbei agieren. Die Ohnmacht der EU gegenüber nationalen Alleingängen war schon beim Thema Raketenabwehrsystem unübersehbar, sie ist seit den Differenzen über die Anerkennung des Kosovo und Abchasiens, aber auch über die Sanktionspolitik gegenüber dem Iran nicht mehr zu beschönigen.

Die 2001 gegründete Militärallianz SCO (Shanghai Cooperation Organisation), die rund ein Viertel der Weltbevölkerung vertritt, die Organisation der Islamischen Konferenz (OIK) und die Nato bezeichnen ein Machtdreieck, dem sich Europa ebenso wird stellen müssen wie der Tatsache, dass sich ein neues "Great Game", diesmal auf hoher See, abzeichnet. 90 Prozent der geschätzten Vorkommen an Öl und 50 Prozent der Vorkommen an Gas liegen auf dem Meeresgrund. Die Vorkommen unter dem Nordpol übertreffen die Erdölreserven Saudi Arabiens, wie Putin 2007 bekanntgab, um das Doppelte. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, welcher Zündstoff sich hier ansammelt. Ist die EU darauf vorbereitet?

Wenn es richtig ist, dass die transatlantischen Beziehungen nie mehr dieselben sein werden wie im Kalten Krieg, braucht die EU Partner, die den Wirkungskreis der Gemeinschaft ökonomisch und sicherheitspolitisch stabilisieren. Dass das mühselige Hin und Her um eine EU-Mitgliedschaft der Türkei und die noch lange nicht festgezurrte Teilnahme Russlands an einer gemeinsamen Raketenabwehr hier keinen Ersatz bieten, liegt auf der Hand. Mit der Türkei und Russland wachsen aber an der Peripherie Europas Mächte heran, die in nicht allzu ferner Zukunft ausschlaggebend für die Sicherheit des Kontinents sein werden. Die grundsätzliche Frage ist: Wie kann man Partnerschaften zu diesen Mächten fördern, ohne die transatlantische Beziehung zu vernachlässigen?

Russland und die Türkei haben, hierzulande kaum beachtet, auf das Ende des Kalten Krieges mit einer bemerkenswerten Volte reagiert: Sie haben eine Jahrhunderte lange "Erbfeindschaft" begraben, ohne viel Federlesens eine strategische Partnerschaft eingeläutet und damit die Kräfteverhältnisse vom Schwarzmeerraum bis in den Mittleren Osten gravierend verändert. Es geht um Energie, Pipelines, Transitwege, Investitionen, Tourismus, Handel und Sicherheit. Auch wenn Russland, inzwischen Mitglied der SCO, durch eine kopflose Erweiterungspolitik der Nato vorübergehend in die Arme Chinas getrieben wurde, hat es im Grunde nur die Option, sich in den kommenden Jahrzehnten nach Europa zu bewegen. Da-für sprechen sein dramatisches demografisches Problem, der Zwang, seine innere Modernisierung voranzutreiben und der drohende Druck Chinas auf den Osten Sibiriens.

Die Türkei wiederum ist dabei, sich aus einer seit Jahrzehnten anhaltenden Identitätskrise zu befreien. Sie ist heute europäischer, demokratischer, konservativer, islamischer und nationalbewusster - alles zur selben Zeit. Was sie gegen alle Erwartung interessant macht, ist weniger ihre Größe oder das für die nächsten Jahrzehnte erwartete rasante Wachstum ihrer Wirtschaft und der Bevölkerung, sondern ihr zunehmender Einfluss an der Peripherie Europas. Die Türkei sieht sich nicht mehr als Regionalmacht, sondern im Zentrum einer eigenen Welt, die über ihre notorische Rolle als "Wächter an der Süd-Ost-Flanke der Nato" hinaus weist und neben dem Balkan und dem Kaukasus den gesamten Mittleren Osten und die zentralasiatischen Staaten umgreift. Es ist ihr unmöglich, sich weiter als peripher zu begreifen, sozusagen am Spielfeldrand von EU, Nato oder Asien. Deswegen lehnt sie es auch ab, zwischen Ost oder West wählen zu müssen, und sie begreift sich auch nicht als Brücke zwischen dem Islam und dem Westen. Beides würde sie zur Vertretung oder Förderung fremder strategischer Interessen degradieren. Vor diesem Hintergrund liegt es im Sicherheitsinteresse Europas, zu verhindern, dass die türkische Außenpolitik einem Populismus unterliegt, der sie in die falsche Richtung zieht.

Die Türkei sucht heute Sicherheit und Einfluss in ihrem Umfeld durch maximale Kooperation und "soft power". Ihr Credo lautet: "Keinerlei Konflikte mit unseren Nachbarn und in unserer Nachbarschaft". Wenn sie mitunter zu unkonventionellen Mitteln greift, ist das nichts wirklich Neues. Ihre Schaukelpolitik im Zweiten Weltkrieg zwischen England, mit dem sie ein Bündnis einging und Nazi-Deutschland, mit dem sie einen Freundschaftsvertrag schloss, war ihrem Image nicht besonders zuträglich, hielt sie aber aus dem Kriegsgeschehen heraus. Schon der als säkularer Säulenheiliger gefeierte Staatsgründer Kemal Atatürk achtete wenig auf Etikette. Seinen Befreiungskrieg gegen die Westmächte stützte er auf eine Liaison mit den Bolschewiki in Moskau - damals die Parias schlechthin - , die ihn mit Millionen Goldrubel und Tonnen von Kriegsmaterial versorgten, und er hatte auch keine Scheu, das Volk mit dem Aufruf zum Dschihad zu mobilisieren, um die Türkei vor der Zerlegung in ihre Einzelteile zu retten. Das Diktat von Sèvres - ein türkisches Pendant zum deutschen Versailles, nur schlimmer - gehört noch heute zum Unterrichtsstoff für Ankaras angehende Diplomaten und sollte für jeden, der über das unverrückbare Leitmotiv türkischer Außenpolitik im Zweifel ist, Pflichtlektüre sein.

Auf Europa angewiesen

Über der etwas stereotypen Empörung, die der Krach mit Israel nach dem Gaza-Krieg und dem Entern der Mavi Marmara Hilfsflotille im Westen auslöste, geriet in Vergessenheit, dass - abgesehen von ihrer Karriere als neuer Champion der Palästinenser anstelle des Iran - die Türkei mehr als je zuvor auf Europa angewiesen ist. Und zwar nicht nur, weil die wirtschaftliche Verflechtung mit der EU, von der ihre eigene ökonomische Entwicklung abhängt, sie dazu zwingt, sondern auch deshalb, weil ihr strategisches Potential, ihr Ansehen und ihr Einfluss im Nahen Osten und in der gesamten islamischen Welt gerade auf ihrer Modernität beruht - eine Attraktivität, die sie primär aus ihren engen Beziehungen zu Europa gewinnt.

Gefahr aus Teheran

Die derzeit größte Gefahr droht der türkischen Außenpolitik aus Teheran. Indem sie sich aus durchaus nachvollziehbaren Gründen gegen eine Konfrontation mit dem Iran und gegen Sanktionen stemmt, zugleich aber den Erklärungen der iranischen Führung über den angeblich friedlichen Zweck ihres Atomprogramms Glauben schenkt, geht sie ein hohes Risiko ein. Sie könnte am Ende als Verlierer dastehen und in ein atomares Wettrüsten verwickelt werden, das den gesamten Nahen Osten in ein Pulverfass verwandelt.

Wir Europäer sehen Gefahren vornehmlich aus der Perspektive einer Gefährdung unseres Lebensstandards. Die gegenwärtige Krise der europäischen Gemeinschaft wird weniger als Sicherheitsproblem, denn als ökonomische Herausforderung begriffen, der man mittels finanz- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen beikommen will. Die EU kann ihre Sicherheit aber nicht nach den Regeln eines Versicherungsunternehmens managen und sie kann auch nicht darauf warten, dass eines Tages alle europäischen Staaten ihr oder der Nato angehören. Die EU muss hier und heute darauf reagieren, dass sich ihr Umfeld in ebenso rasendem Tempo ändert wie ihr Einfluss auf ihre Nachbarschaft im letzten Jahrzehnt zu-rückgegangen ist. Schwache Staaten im unmittelbaren Umkreis sind indessen nicht weniger problematisch wie starke.

Man mag es drehen und wenden, wie man will: In einer Welt, in der Europa zusehends an die Peripherie gerät, muss die EU Russland wie der Türkei die glaubwürdige Perspektive einer echten Partnerschaft bieten. Dazu bedarf es einer interessengeleiteten Strategie, die darauf abzielt, beide Staaten nach intensiver Vorbereitung vertraglich an Europa zu binden. Weder muss die Türkei dazu EU-Mitglied sein, noch Russland der Nato angehören. Eine solche Politik würde der EU eine tragende Rolle in einer europäischen Sicherheitsarchitektur überantworten, Nutzen aus dem Interesse Moskaus an einer Modernisierung ziehen und dem neuen türkischen Gestaltungswillen einen stabilen Anker geben. Oder um das bekannte Wort Lord Ismays abzuwandeln: Sie würde die EU geeint, die Türkei europäisch und Russland post-imperial halten.

Das setzt allerdings die Bereitschaft und die Anstrengung voraus, die andere Seite zu ver-stehen und sich in ihre Lage zu versetzen. Und es erfordert, dass die EU ihre außenpolitische Effektivität spürbar steigert und die neuen Instrumente eines EU-Außenministeriums und eines eigenen Diplomatischen Corps dort einsetzt, wo sie ihren Sinn am besten erfüllen. Der klassische, europäische Nationalstaat ist einem radikalen Wandel unterworfen, weil er allein auf sich gestellt nicht mehr in der Lage ist, seinen Interessen nach außen hin Geltung zu verschaffen. Wenn Europa es nicht schafft, mit einer Stimme zu sprechen, verabschiedet es sich aus einem Konzert, das heute schon droht, in einer Kakophonie zu enden. Der Dirigent gehört ans Pult, und das kann nur in Brüssel stehen und nicht in allen 27 Hauptstädten gleichzeitig.