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Zu früh das Leben vollendet

HERMANN EHLERS (1950-1954) Der »politische Pädagoge« mit Witz wurde zur konfessionellen Integrationsfigur

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
6 Min

Als Erich Köhler im Oktober 1950, nach einer Amtszeit von etwas über einem Jahr, als Bundestagspräsident zurücktrat, fiel die Wahl auf den CDU-Abgeordneten Hermann Ehlers als Nachfolger. Ehlers zeichnete ein unbeugsames Verhalten während des "Dritten Reiches" aus, was ihn für ein hohes Staatsamt in der jungen Bundesrepublik Deutschland qualifizierte.

Wenn auch nicht erstes Auswahlkriterium, so doch unverzichtbar für das zweithöchste Amt war seine protestantische Herkunft; denn die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) hatte sich seit ihrer Gründung im Jahre 1945 entschieden dagegen verwahrt, als Nachfolgerin der katholischen Zentrumspartei zu gelten, auch wenn die Anzahl der Katholiken überwog. Weil nun schon Bundeskanzler Konrad Adenauer katholisch war, sollte als Äquivalent der ebenfalls von der CDU/CSU zu stellende Parlamentspräsident evangelisch sein. Bei Hermann Ehlers, im nordwestdeutschen Raum die konfessionelle Integrationsfigur in der CDU, war diese Voraussetzung gegeben.

Leben für die Kirche

Der am 1. Oktober 1904 in Berlin geborene und 1926 promovierte Jurist Ehlers war in den beginnenden 1930er Jahren im Verwaltungsdienst der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union tätig, wechselte 1933 als Angestellter in die Bezirksverwaltung Steglitz, bis er im September 1934 durch ein NSDAP-Mitglied ersetzt wurde. Danach als Anwalt tätig, befasste sich Ehlers hauptsächlich mit der Bearbeitung kirchenrechtlicher Fragen der Bekennenden Kirche, für die er seit 1933 selbst ehrenamtlich tätig war. Erst 1936 kehrte er als Richter in den Staatsdienst zurück. Seine endgültige Übernahme wurde jedoch abgelehnt. Seit Oktober 1940 in Hamburg der Flugabwehr zugeteilt, überstand Ehlers den Krieg unverletzt und wurde 1945 Oberkirchenrat der Landeskirche Oldenburg.

Als Hermann Ehlers im September 1949 über die Landesliste in den Deutschen Bundestag kam, war er in Deutschland unbekannt und ohne Rückhalt bei den Wortführern in der Unionsfraktion. Immerhin gelangte Ehlers vermutlich über einen regionalen Proporz in den Haushaltsausschuss und saß als Kirchenmann im Ausschuss für Kulturpolitik. Hier lernten die Mitglieder des Bundestages Ehlers als einen verbindlichen, prinzipientreuen und zuverlässigen Mitstreiter kennen, wie auch als einen fairen und sachlichen politischen Gegner. Seine konstruktiven Beiträge fanden wiederholt die notwendige Beachtung und Zustimmung - auch bei der Opposition.

Schwere Wahl

Ehlers dennoch am 19. Oktober 1950 zum Bundestagspräsident zu wählen, fiel offensichtlich manchem Abgeordneten schwer. Nur 61,8 Prozent aller Mitglieder des Bundestages wählten ihn. Auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion wurde seine parteipolitische Zuverlässigkeit zunächst in Frage gestellt, weil prominente Mitglieder der Bekennenden Kirche sich in vorderster Linie in der SPD engagierten oder sich zugunsten sozialdemokratischer Ziele aussprachen. Der evangelische Theologe und Pazifist Martin Niemöller etwa hetzte gegen Adenauers Westeuropäische Integrationspolitik mit kernigen Worten wie: "Die Bundesrepublik ist im Vatikan gezeugt und in Washington geboren worden." Und wenige Tage vor der Wahl von Ehlers war mit Gustav Heinemann ein anderes prominentes Mitglied der Bekennenden Kirche unter großer Beachtung durch die Öffentlichkeit aus dem Kabinett Adenauers ausgeschieden. Aus der Luft gegriffen waren die Sorge um die parteipolitische Loyalität eines Ehlers also nicht.

Die ersten Jahre der 1949 gegründeten Bundesrepublik waren Jahre der Weichenstellung. Adenauer hatte mit seiner Zustimmung vom 9. Mai 1950 an den französischen Außenminister Robert Schuman, den von Jean Monnet erarbeiteten Plan einer Montan-Union zu unterstützen, sowie mit seiner Erklärung "im Falle der Bildung einer westeuropäischen Armee einen Beitrag in Form eines deutschen Kontingents zu leisten" zweierlei bewirkt: Er hatte den Grundstein für die Europäische Einigung gelegt und sich für die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschlands ausgesprochen, und das, wo die Rufe aus Deutschland: "Nie wieder Kriege", noch nicht verhallt waren.

Tatsächlich nahm Ehlers in dieser Frage eine zutiefst "protestantische" Haltung ein: Einerseits bemühte er Martin Luthers Schrift zum Türkenkrieg, in der der Reformator 400 Jahre zuvor zwar zur Beteiligung am Türkenkrieg aufrief, aber den Gedanken an einen Kreuzzug entschieden verworfen hatte. Andererseits kennzeichnete Ehlers der hohe Respekt gegenüber der Opposition, die befürchtete, dass sich die Bundesrepublik bei einer Wiederbewaffnung noch weiter von der Hoffnung auf Wiedervereinigung entfernen würde.

Gegensätze

Ehlers hatte sich gelegentlich eines Wortes des Kulturhistorikers und Staatstheoretikers Arthur Moeller van den Bruck (gest. 1925) zu eigen gemacht. Dieser sagte einmal: Konservativ heißt, in Gegensätzen leben zu können. In diesem Sinne bejahte Ehlers den "Interessenpluralismus der Parteiendemokratie als ein konservatives Signum der Bundesrepublik" (Karl Dietrich Erdmann). Dass ein solcher Interessenpluralismus im Bundestag erhalten bleiben und gepflegt werden musste, war zu einer Handlungsmaxime für Ehlers geworden.

Hohe Erwartungen waren an Bundestagspräsident Ehlers geknüpft. Schon zum Amtsantritt am 19. Oktober 1950 forderten Abgeordnete fast aller Fraktionen von Ehlers, ein kleines Zeremoniell einzuführen, demzufolge die Abgeordneten aufstehen sollten, wenn der Präsident den Sitzungssaal betritt, um ihm dadurch eine Respektsbezeugung zu erweisen. Ehlers hatte das abgelehnt. Schon bald warf die Presse ihm vor, er würde der "Würde des Parlaments" nicht genügend Rechnung tragen und Lärm und Pöbelszenen nicht wirksam begegnen. Adenauer forderte Ehlers auf, lästige Zwischenrufer des Saales zu verweisen. Doch Ehlers wollte - anders als sein Vorgänger Erich Köhler - dererlei Stimmungen bewusst nicht weiter aufheizen und begegnete Störern mit Humor und umsichtigen Ermahnungen. Seine Sitzungsleitung zeichnete aus, dass er mit Schlagfertigkeit, Humor und zupackendem Witz souverän die Geschäftsordnung handhabte; hierin stand er übrigens seinem Vizepräsidenten von der SPD, Carlo Schmid, in nichts nach.

Selbstverständlich konnte es Ehlers bei seiner Amtsführung nicht jedem recht machen. Der Vorwurf Adenauers, parteiisch gegen die Regierungsmitglieder die Sitzungen zu leiten, war umgekehrt auch aus der Opposition zu vernehmen. Im Pressedienst der SPD-Fraktion hieß es am 23. Juli 1952, Ehlers würde sich "als Präsident der Mehrheit und nicht als Präsident des Parlaments gerieren". Wie laut die Kritik auch geäußert wurde, sie hatte nicht zu verhindern vermocht, dass Ehlers bei seiner Wiederwahl am 6. Oktober 1952 den bis heute höchsten Stimmenanteil mit 93,2 Prozent auf sich vereinigen konnte. Die Abgeordneten spürten dass Ehlers seine wichtigste Aufgabe darin sah, das parlamentarische Selbstbewusstsein zu stärken.

Schwächen der Arbeit

In seinen zahlreichen Rundfunkansprachen, Interviews und Zeitungsbeiträgen scheute sich Ehlers nicht, auch Schwächen der parlamentarischen Arbeit offen anzusprechen. Immer wieder waren seine Themen: freie Rede, Kürzung der Redezeiten, unbegründete Abwesenheit von Abgeordneten, Verhältnis von Ausschusssitzungen und Plenum sowie die hohe Arbeitsbelastung der Abgeordneten.

Noch zu Amtszeiten von Bundestagspräsident Köhler wurden Vorschläge für eine aktive Öffentlichkeitsarbeit unterbreitet. Ehlers erhöhte dazu stetig die Gelder und ließ für die Besucher des Bundeshauses, die direkt vom Präsidialbüro betreut wurden, eine dreißigseitige Broschüre zusammenstellen, die bemerkenswerterweise bis 1970 in stets aktualisierter Auflage erschien und maßgeblich zum Erscheinungsbild der Bundestages in der breiten Öffentlichkeit während der 1950er und 1960er Jahre beitrug. Angeregt durch die ihm vertraute evangelische Jugendarbeit setzte er sich dafür ein, dass auch Schulklassen aus der ganzen Bundesrepublik ins Bonner Bundeshaus eingeladen werden, um einen kleinen Einblick von der Arbeit des Bundestages zu vermitteln.

Erst als Bundestagspräsident gelang es Ehlers, seine Reputation in der CDU kräftig auszubauen. Fortan konnte auch Adenauer, der den von ihm selbst auf den Schild gehobenen Ehlers inzwischen als Konkurrenten wahrnahm, nicht an ihm vorbeigehen. Im Juli 1952 wurde Ehlers zum Landesvorsitzenden der CDU Oldenburg und im Oktober zum Stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. Hierbei erlangte er die gleiche Anzahl von Stimmen wie Konrad Adenauer. Schon wurde Ehlers als sein baldiger Nachfolger gehandelt, denn immerhin war Adenauer 76 Jahre alt und Ehlers gerade 48 geworden.

DDR-Kontakt

Adenauer war auch deswegen über die hohe Zustimmung für Ehlers überrascht, weil dieser noch wenige Wochen zuvor als Parlamentspräsident eine Delegation der Volkskammer der DDR im Bundestag empfangen hatte. Die Delegierten - von der DDR-Regierung "in Pankow" entsandt und von Moskau gesteuert - kamen mit den üblichen, propagandistisch wirkungsvoll inszenierten Wiedervereinigungsangeboten. Adenauers Sorge war, dass Ehlers sich vor einen falschen Karren spannen ließe. Doch offensichtlich kannte auch Adenauer Ehlers zu wenig. Denn so politisch naiv war der gelegentlich als "bibelfester Jurist" belächelte Ehlers nun auch nicht.

Nach Ehlers frühem Tod im Alter von 50 Jahren, am 29. Oktober 1954 in Folge einer Mandelvereiterung, stellte Vizepräsident Carlo Schmid heraus, dass sich Ehlers immer bemüht habe, "allen Parteien die Chance gleich zuzumessen und jeder das Ihre zu geben". Und, so führte Schmid weiter aus, Ehlers habe "lieber am langen Zügel gelenkt als mit der Kandare".

Keinem Parlamentspräsidenten in der Geschichte des Deutschen Bundestages ist schon zu Lebzeiten - sowohl von Mitgliedern des Bundestages wie auch von der Öffentlichkeit - soviel Sympathie entgegengebracht worden, wie Hermann Ehlers. Der als "politischer Pädagoge" umtriebige Ehlers hatte sich nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus unermüdlich für die parlamentarische Demokratie ausgesprochen, wohl wissend, "dass auch bei uns die Demokratie die am wenigsten schlechte Staatsform ist".

Ehlers hat der jungen parlamentarisch-repräsentativen Demokratie ein Gesicht gegeben, nämlich seins.

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Der Autor Michael F. Feldkamp (geb. 1962) ist Historiker und arbeitet mit Unterbrechungen seit 1993 in der Bundestagsverwaltung.