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Die Frage der Legitimität

DEMOKRATIE Der französische Politologe Pierre Rosanvallon plädiert für ein erweitertes Verständnis

24.01.2011
2023-08-30T12:16:36.7200Z
4 Min

Egal ob Stuttgart 21 oder Hamburger Schulstreit. Hinter dem Aufbegehren tausender Bürger und den strittigen Entscheidungen stand immer auch die Frage nach der Legitimation des außerparlamentarischen Protests und der parlamentarischer Beschlüsse. Was dürfen, sollen und können die Bürger politisch bewirken, nachdem sie ihr Kreuzchen gemacht und das Wahllokal verlassen haben? Und was gibt den Abgeordneten das Recht, nach dem Wahltag gemeinwohlrelevante Gesetze zu verabschieden, ohne noch einmal das Volk zu konsultieren? Die Macht der Mehrheit alleine legitimiert solche Entscheidungen anscheinend nicht mehr wie auch das Parlament durch das Mehrheitsvotum nicht durchweg demokratisch legitimiert sind. So sieht es zumindest Pierre Rosanvallon in seiner analytischen Theorie der "Demokratischen Legitimität".

Der französische Politologe prognostizierte bereits vor zwei Jahren, dass eine "Dezentrierung der Demokratie" nötig sei, um die "Herrschaft des Volkes" neu zu legitimieren und damit der naturgemäß labilen Regierungsform ein stabileres Fundament zu geben. Die Protestaktionen von heute musste er nicht vorhersehen, um zu einer kritischen Zustandsbeschreibung der westlichen Demokratien mit ihren Repräsentativverfassung zu gelangen. Die vielbeschworene Politikverdrossenheit bietet seit Jahren die Folie für mehr oder minder scharfsinnige System-Schelten.

Unabhängige Gremien

Rosanvallons Kritik an den verkrusteten Strukturen aber hebt sich wohltuend ab von den plakativen Parolen eines Hans Herbert von Arnim oder Gabor Steingart. Er verteufelt weder Parteien noch Parlamente, sondern sucht nach erweiterten demokratischen Legitimitäten, die er mit den abstrakten Begriffen "Unparteilichkeit", "Reflexivität" und "Nähe" umreißt. So stellt er den historisch verwurzelten Institutionen komplementäre, gewissermaßen vertrauensbildende Gremien und Entscheidungsverfahren zur Seite. Im Blick hat er dabei parteilich und parlamentarisch unabhängige Behörden und Beamte, die jenseits des politischen Richtungsstreits in Grundsatzfragen immer auch das Wohl der Minderheiten berücksichtigen.

Diese kollegialen Kommissionen legitimieren sich nicht durch die schwankende Wählergunst, sondern durch den permanenten Nachweis ihrer Unparteilichkeit, eine transparente und konstruktiv-kritische Urteilsfindung, die auf dem "Austausch von Argumenten und Informationen aufgrund der kontroversen Einschätzungen ihrer Mitglieder" basiert. Offen bleibt indes, wie dieser "Idealtypus unabhängiger Behörden" angesichts ständiger Attacken durch Lobbyisten und Parteigänger realisiert werden kann. Die persönliche Integrität und politische "Interesselosigkeit" der Beamten ist dabei Voraussetzung, aber in der politischen Praxis in diesem umfassenden und idealistischen Maße wohl kaum anzutreffen. Auch findet Rosanvallon keine befriedigende Antwort darauf, wie verbindlich die vernunftgeleiteten Vorschläge für die Regierungen am Ende sein sollen. Ihm geht es bei der Erklärung und Verteidigung solcher Gremien um ein "erweitertes Verständnis von Demokratie". Die Schwierigkeiten ihrer konkreten Ausgestaltung und Bewährung beschäftigen ihn denn auch nur theoretisch und historisch, selten praktisch.

Ganz ähnlich verhält es sich im Kapitel über die "Legitimität der Reflexivität", die Rosanvallon verkörpert sieht in "Verfassungsgerichten als unabhängigen Reflexionsinstanzen" die "die Grundwerte der Demokratie" aufrechterhielten und lebendig machten. Auch hier wünscht er sich ein gemeinwohlorientiertes Gremium, das über den Rechtsstaat und die Regierenden unabhängig und überparteilich wacht. In diesem Punkt wird seine Theorie durch erfolgreiche Beispiele aus der Gegenwart bestätigt. Obwohl der Franzose das deutsche Bundesverfassungsgericht nicht näher betrachtet, scheint es seinem Idealbild recht nahe zu kommen. Ob man die Richter aus Karlsruhe allerdings stärker in politische Entscheidungs- und Beratungsprozesse einbinden sollte, um das demokratische Gemeinwesen zu stärken und es vor Fehlentscheidungen der Regierenden zu schützen, sollte gut überlegt sein. Letztlich sollten solche Instanzen die politischen Entscheidungsfindung kontrollieren und nicht mit ihnen konkurrieren.

Bedürfnisse der Bürger

Spannend wird es aber erst, wenn Rosanvallon die "Legitimität der Nähe" und damit das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten neu definiert. So verlangt er von den gewählten Politikern, den partikularen Bedürfnissen der Bürger mehr Beachtung und Anerkennung zu schenken. Gleichzeitig fordert er von den Volksvertretern eine ehrlich gemeinte "Politik der Präsenz", die nicht inszeniert ist, sondern Verbindlichkeit und Vertrauen signalisiert. Zwischen Schein und Sein dieser Präsenz wird der Wähler aber nur schwer unterscheiden können. Da scheint es aussichtsreicher und produktiver, wenn die Regierten selbst Präsenz zeigen. Und zwar nicht durch permanente Plebiszite, sondern durch eine interaktive Demokratie, in der die Erwartungen und Vorschläge der Bürger stärker in den politischen Prozess einfließen können und der Staat stärker als reflexive Gewalt gefordert wird. Dass hier dringend Lösungen gefunden und sich Einstellungen verändern müssen, um mehr Demokratie wagen zu können, zeigt nicht zuletzt das Beispiel Stuttgart. Rosanvallon liefert für diese Phänomene die demokratietheoretische Begründung, die praktischen Antworten aber müssen Bürger und Politiker im Dialog entwickeln.

Pierre Rosanvallon:

Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit -Reflexivität - Nähe.

Hamburger Edition, Hamburg 2010; 304 S., 32 €