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Das Gift wirkt

INNERE SICHERHEIT I Demokratien dürfen ihre Prinzipien trotz Terrorgefahren nicht preisgeben - eine Brandrede

29.08.2011
2023-08-30T12:16:47.7200Z
6 Min

Der Guerillakämpfer besetzt das Land, der Terrorist besetzt das Denken. Der Terrorist okkupiert nämlich die Schaltzentralen der Legislative und der Exekutive, er verseucht den Geist der Gesetze und verdirbt das Vertrauen in den Rechtsstaat. Die islamistischen Terroristen haben mit ihren Attentaten die Parlamente der demokratischen Staaten dazu getrieben, Grundrechte einzuschränken; sie haben deren Sicherheitsorgane dazu verleitet, an der Grenze und jenseits der Legalität zu operieren; sie haben die Rechtsstaaten dazu gebracht, ihre Prinzipien in Frage zu stellen. Und sie tun es immer noch. Terrorismus hat Langzeitwirkung.

Beherrschender Einfluss

Überall in den Ländern der westlichen Welt wurden und werden vergiftete Paragraphen und Gesetzesartikel produziert, rechtsstaatliche Grundsätze geopfert, die Privatsphäre der Bürger missachtet. Die Terroristen sind zwar nicht, wie nach dem 11. September 2001 befürchtet, in Atomkraftwerke und Wasserversorgungsanlagen eingedrungen, nicht dort haben sie Unheil angerichtet. Sie haben es auf andere, subtil-gefährliche Weise getan. Sie nahmen beherrschenden Einfluss auf die Apparate und Brain-Trusts, in denen das Recht produziert wird, sie veränderten die Sicherheitsarchitektur grundlegend, sie verkürzten die Freiheitsrechte, sie entwerteten das klassische Strafrecht. Der 11. September 2001 ist ein Schreckensdatum. Und die zehn Jahre seitdem waren keine guten Jahre für die Bürgerrechte.

Unter der Herrschaft des Terrorismus verändert sich das aufgeklärte Strafrecht in fundamentaler Weise. Um Terroristen auf die Spur zu kommen (die unauffällig als "Schläfer" unter der Bevölkerung leben), wird die Gesamtbevölkerung subtil ausgeforscht - mit Abhöraktionen, mit Überwachungs- und Datenspeicherungsmaßnahmen, mit der Kontrolle der Bankkonten, mit ausgeklügelten Kontrollarrangements und Datensammlungen, bei denen Geheimdienste und Polizei kooperieren und die darauf zielen, Mobilität und Informationsverhalten der Bürger kontrollieren zu können. Es wird national und international eine Infrastruktur der Überwachung etabliert.

Verändertes Strafrecht

Vom normalen Strafrecht wird mehr und mehr ein Feindstrafrecht abgespalten, in dem Dinge erlaubt werden, die ansonsten nicht erlaubt sind; und das verbleibende normale Strafrecht verwandelt sich in ein Gefahrenvorbeugungsrecht: Je größer die Gefahr ist oder erscheint, um so einschneidender werden die Maßnahmen, die (auch gegen völlig Unverdächtige) ergriffen werden in der Hoffnung, so die Gefahr zu bannen oder zu minimieren; das führt etwa zur staatlich angeordneten Speicherung aller Telekommunikationsdaten auf Vorrat, das führt zu immer umfassenderer Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht hat sich redlich bemüht, "Stopp" und "Halt" und "So nicht" zu rufen - ohne den Gesetzgeber wirklich zum Umdenken zu bringen.

In den längsten Phasen der Menschheitsgeschichte sind Täter, die tatsächlich oder vermeintlich die staatliche Rechtsordnung oder ihre Repräsentanten angegriffen haben, als Feinde und damit als rechtlos behandelt worden. Womöglich geht nun die kurze Geschichte zu Ende, in denen Staaten auch ihre Feinde dem Recht entsprechend behandelten, und sich, auch deswegen, Rechtsstaaten nannten. Innere Sicherheit wächst damit nicht. Die Garantien des Strafrechts sind keine Garantien mehr, wenn sie gerade dann nicht mehr gelten sollen, wenn es darauf ankommt.

Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten: Das ist der erste Hauptsatz der inneren Sicherheit. Mit ihm begründen Politiker in ganz Europa jede neue Maßnahme, jedes neue Gesetz. Von jeder dieser neuen Maßnahmen und jedem dieser neuen Gesetze hängt angeblich die Zukunft der inneren Sicherheit ab: So war und ist es beim biometrischen Personalausweis; bei der zentralen Speicherung von klassischen und digitalisierten Fingerabdrücken; bei der staatlich verordneten Gesichtsvermessung; beim heimlichen Abhören. Wer nichts zu verbergen hat, der hat ja, angeblich, nichts zu befürchten - auch nicht bei der heimlichen Überwachung von Telefonen, nicht bei der Rasterfahndung, nicht bei der Videoüberwachung des öffentlichen Raums, nicht bei der staatlichen Speicherung von Telefon- und Internetdaten auf Vorrat, wie dies in ganz Europa üblich geworden ist. Auch nicht bei der Abfrage von Kontodaten durch Steuerbehörden, Sicherheitsbehörden und Sozialbehörden, und auch nicht beim Zugriff der Geheimdienste auf private Bankkonten, wie dies in Deutschland zur Terrorvorbeugung erlaubt worden ist.

Potenziell verdächtig

Seit dem 11. September 2001 ist die Politik der westlichen Welt dabei, ihre Rechtsstaaten in Präventionsstaaten umzubauen: Das Recht wird verdünnt, um so angeblich besser mit den globalen Risiken fertig zu werden. Die Beruhigungsformel dabei lautet, wie gesagt: Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten - allenfalls, ja nun, dass er, sein Telefon oder sein Konto ab und zu heimlich und "verdachtsunabhängig" kontrolliert wird, insbesondere, wenn er nicht so ausschaut oder sich nicht so verhält, wie sich ein Polizist, ein Grenz- oder Verfassungsschützer einen braven Bürger vorstellen. Es kann auch passieren, dass man ins Schleppnetz einer Fahndung gerät, die im Ungewissen nach Daten und Fakten fischt. Aber solche Kontrollen müsse man, meinen die Politiker, im Interesse von mehr innerer Sicherheit in Kauf nehmen.

Im fürsorglichen Präventionsstaat sind die Grenzen zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen aufgehoben. Bisher hat das Recht hier sehr genau unterschieden, bisher hat es Beweise, konkrete Fakten gefordert, um jemanden verdächtigen zu können. Nun aber gilt jeder Einzelne zunächst einmal als Risikofaktor und muss es sich gefallen lassen, dass er - ohne einen konkreten Anlass dafür geliefert zu haben - "zur Sicherheit" überwacht wird. Wenn sich dann ergibt, dass der so Beobachtete, Registrierte, Belauschte und Geprüfte nicht gefährlich ist, wird er wieder zum Bürger. Bis dahin gilt jeder Einzelne als potenziell verdächtig - so lange, bis sich durch die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen seine Entlastung ergibt. Bisher war das umgekehrt: Wer keinen Anlass für staatliches Eingreifen gegeben hatte, wurde in Ruhe gelassen. Jeder konnte also durch sein eigenes Verhalten den Staat auf Distanz halten.

Umfassendes Frühwarnsystem

Präventive Logik ist expansiv: Wer vorbeugen will, weiß nie genug. Deshalb wird der Staat, im Namen der Sicherheit, immer mehr in Erfahrung bringen wollen - und immer weiter in die Intimsphäre eindringen, um am Tatort zu sein, bevor der Täter da ist; um einzugreifen, bevor aus dem Gedanken die Tat geworden ist, ja schon bevor der Gedanke daran manifest geworden ist; um also Gewalt gar nicht erst aufkommen zu lassen, um sie zu verhindern statt zu bestrafen. Es geht der neuen Politik der inneren Sicherheit vor allem darum, ein Frühwarnsystem zu errichten - ein Frühwarnsystem, das Regungen potenzieller Normabweichung aufspürt, das Auffälligkeiten registriert, das den Terroristen wie den Dieb erkennt, schon bevor er sich entschließt, wirklich einer zu sein, das flächendeckend und umfassend Daten einfängt und sicherheitshalber speichert, um daraus sicherheitsrelevante Erkenntnisse zu gewinnen. Es werden, und das ist der Preis dieses Frühwarnsystems, ohne konkreten Anlass und ohne konkreten Anhaltspunkt, solche Mittel (wie das heimliche Abhören oder heimliche Kontrollen) potenziell gegen jedermann zum Einsatz gebracht, die bisher im Strafrecht nur gegen Verdächtige möglich waren. Weit im Vorfeld einer Straftat sollen also geringere Anforderungen an den massiven Grundrechtseingriff gelten als dann, wenn der Täter schon konkret zur Tat angesetzt hat.

Wachsamkeit versprechen

Wir reden, wenn es um innere Sicherheit geht, viel vom starken Staat. Wie sieht ein wirklich starker Staat aus? Ein starker Staat ist der Staat, der seine Regeln verteidigt und nach ihnen handelt, nicht der, der sie aufgibt. Stark ist nicht der Staat, der seinen Bürgern mit einem Generalverdacht gegenübertritt und grundsätzlich jedem misstraut. Stark ist der Staat, der weiß, dass die Menschen- und Bürgerrechte noch immer die besten Garanten der inneren Sicherheit sind. Stark ist der Staat, der seine Prinzipien mit kühlem Kopf und mutiger Gelassenheit verteidigt. Dieser Staat muss seinen Bürgern alle Wachsamkeit versprechen - und dieses Versprechen halten. Und er muss seinen Bürgern die Wahrheit sagen, dass er, bei aller Wachsamkeit, Risiken nicht ausschalten kann und den Terrorismus nicht ersticken kann.

Was dürfen die Sicherheitsapparate? Die Sicherheitsapparate eines Polizeistaats dürfen alles, was sie können. Die Sicherheitsapparate eines Rechtsstaats können alles, was sie dürfen. Die Sicherheitsapparate eines Rechtsstaats dürfen und können ziemlich viel, aber das hat eine Grenze. Das galt vor dem 11. September 2001, und das muss auch nachher so sein. Diese Grenze zu zeigen ist Aufgabe der Politik, die Aufgabe der höchsten Gerichte, die Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Und diese Grenze zu befestigen - das ist Prävention.