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INTEGRATION Eine populistische Islam-Debatte verstellt den Blick auf die Defizite

29.08.2011
2023-08-30T12:16:47.7200Z
4 Min

Die andauernde Debatte um muslimische Migranten beschäftigt sich kaum mit Inhalten. Sie ist vielmehr Projektionsfläche eines zutiefst ideologisierten Grabenkampfes und zelebriert das Unvermögen der politischen Elite, echte Konzepte und Visionen der Teilhabe und Beteiligung zu entwickeln. Es geht darum, Ängste und Befürchtungen, die in allen gesellschaftlichen Gruppen existieren, ernst zu nehmen und in politische Konzeptionen umzusetzen. Nur dann funktioniert die Inklusion von Menschen mit Migrationshintergrund. Wohin solche Ängste im extremsten Fall führen können, wenn sie zu politischen Wahnvorstellungen werden, zeigten zuletzt auf schreckliche Weise die Anschläge in Norwegen, mit denen der Attentäter Anders Behring Breivik explizit ein Fanal gegen die multikulturelle Gesellschaft setzen wollte.

Fehlende Debatte

In der Bundesrepublik hat mittlerweile etwa jeder fünfte Einwohner ausländische Wurzeln. Aus integrationspolitischer Perspektive ist diese Verschiebung der gesellschaftlichen Zusammensetzung Herausforderung und Chance zugleich. Nach den verheerenden Folgen des nationalsozialistischen Rassewahns führte indes die damit verbundene gesellschaftliche und vor allem moralische Krise der Deutschen dazu, dass legitime deutsche Interessen in der Diskussion um Migration zurückgestellt wurden. Das Fehlen dieser Debatte sorgt dafür, dass ein wichtiger Teil der deutschen Gesellschaft den Nutzen der interkulturellen Öffnung Deutschlands nicht nachvollziehen kann. Bereitwillig liefert man auf diese Weise nationalistischen Kreisen Argumente und gibt ihnen die Möglichkeit, die Hoheit über Begriffe und Symbole der Nation zu entern.

Damit wurde der Diskurs ideologisiert und ausschließlich den politischen Eliten überlassen. Ein gesellschaftlicher Konsens kann damit nicht produziert werden. Migranten und Migration werden nur noch entlang ideologischer Dispute thematisiert. Populistische Thesen polarisieren diesen Diskurs und verhindern jegliche rationale Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten Zukunftsthemen der Bundesrepublik - und begünstigen so nicht nur Abwehrreflexe der aufnehmenden Gesellschaft, sondern auch Defizite bei der Integrationsfähigkeit und -bereitschaft auf Migrantenseite.

So ist jenseits der "Bauchempirie" feststellbar, dass strukturelle integrationspolitische Problemfelder brach liegen. Insbesondere - aber nicht ausschließlich - im bildungspolitischen Bereich lassen sich kolossale Lücken beobachten. Die Desintegration vieler Migranten zeigt sich am deutlichsten im schulischen Abstieg der Jugend. Ein Großteil hat keinen oder einen schlechten Hauptschulabschluss und wenig Chancen für eine Berufsausbildung. Die Gründe sind vielfältig, aber die langfristigen Folgen schon heute voraussehbar. Migrantenkinder mit schlechter Schulbildung rutschen in die Arbeitslosigkeit und sind mit dem sozialen Abstieg konfrontiert. Den Betroffenen ist ihre prekäre Lage bewusst; sie wissen, dass sie die Verlierer der Gesellschaft sind. Entsprechend verhalten sie sich und entwickeln gegenkulturelle Kategorien und Konfliktlösungsmechanismen.

Dabei machen viele muslimische Jugendliche die Elterngeneration für ihre Situation verantwortlich. Hinzu kommt, dass sie ihre Lebenssituation aufgrund der empfundenen Diskriminierung und Ablehnung seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft als perspektiv- und chancenlos bewerten. Bei diesen Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat sich ein Gefühl kollektiver Frustration und Wut durchgesetzt. Radikale Gruppen profitieren von dieser Sinnkrise. Den Betroffenen verheißen sie die Möglichkeit, die eigene Identität zu finden und sich in eine soziale Gruppe einzugliedern, die ihnen eine feste Rolle zuordnet, in der sie sich einbringen können.

Der islamische Radikalismus instrumentalisiert als Exklusivideologie in diesem Zusammenhang die fehlende soziale, kulturelle und wirtschaftliche Integration muslimischer Jugendlicher. Gleichzeitig vermittelt er ihnen innerhalb der "wahren" muslimischen Gemeinde soziale Geborgenheit und die vermisste Wertschätzung, die sie weder von den Eltern noch von der Gesellschaft erhalten. Denn in beiden Bereichen werden sie eher als "Problem" debattiert. Damit kann man die schnell wachsende Salafismusbewegung in Deutschland erklären.

Salafisten verstehen sich als eine Erneuerungsbewegung mit dem Ziel, den Ur-Islam und seine damaligen Kulturzustände wiederherzustellen; sie lehnen es ab, die Aussagen des Islam den zeitlichen Umständen anzupassen. Ihre dualistische Interpretation der Welt als Kampf zwischen Glaube und Unglaube verstärkt ihre Distanz zur Gesellschaft. Die Religion ist dabei die deutlichste Trennungslinie. Es herrscht ein Szenario des Rückzugs, der Identitätssuche, des Beharrens und der Angst. Auch das kann in extremistische Gewalt münden.

Entfaltungsoptionen

Sowohl die staatlichen Entscheidungsträger als auch die Vertreterorganisationen der islamischen Gemeinden in Deutschland scheinen mit der Situation überfordert zu sein. Der Ausweg liegt in der Gleichzeitigkeit einer vehementen Bekämpfung antidemokratischer Ideologien und der Gewinnung von Menschen für die zivilisatorischen Errungenschaften des Grundgesetzes. Muslime und Nicht-Muslime müssen erkennen können, dass die freiheitlich-liberale Grundordnung der Bundesrepublik durchaus Entfaltungsoptionen bietet - auch für religiöse Gedanken.

Werden Muslime entlang verfassungsrechtlicher Prinzipien als "gleichwertige" Bürger anerkannt und die politische Kultur des "Bürgers" im Sinne des für das Gemeinwesen verantwortlichen Citoyen gesamtgesellschaftlich durchgesetzt, so wird den Populisten der Hoheitsanspruch über Begriffe der Religion streitig gemacht; anderseits stünde ein Verfassungspatriotismus einer islamischen Identität nicht im Wege.

Die Bringschuld der Muslime beinhaltet dabei die Anerkennung der Tatsache, dass eine islamische Identität, die auf bloße Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft abzielt, auf Dauer zu schwach sein wird und den folgenden Generationen eher schaden wird. Vielmehr sollten sie sich auf einen Dialog einlassen, der einen zivilisierten Rahmen für Uneinigkeit beinhalten muss und nicht durch den Geist von Toleranz allein begründet werden darf.

Der Autor ist Islam- und Politikwissenschaftler und arbeitet beim

Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz.