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Euro Kapital ohne Fesseln

FINANZKRISE Wie die Politik auch in Deutschland riskanten Bankprodukten den Weg ebnete. Alle wollten am großen Rad drehen

24.10.2011
2023-08-30T12:16:51.7200Z
7 Min

Die Wut der Bürger wächst. Hunderttausende gingen vor wenigen Tagen auf die Straße. Von New York über London, Rom, Madrid bis Berlin, Frankfurt und München reichte Liste der Städte, in denen Menschen gegen die Macht der Banken und internationalen Finanzmärkte demonstrierten. Zum Teil eskalierte der Protest sogar wie in Rom. Auf 950 Protestaktionen in mehr als 80 Ländern summieren sich die Aktionen der letzten Wochen. Ihr einhelliges Motto: Der Kapitalismus hat versagt und Banken müssen zwangsverstaatlicht oder zumindest aufgeteilt werden. Doch ist der moderne, vornehmlich aus Amerika und England zu uns gekommene internationale Finanzkapitalismus wirklich am Ende? Spielen die Banken nur mehr Roulette auf den Weltfinanzmärkten?

Es tut gut, dann, wenn sich die Emotionen überschlagen, einen Blick zurück zu werfen. Nicht unbedingt nach Amerika wo der unselige Weg der faulen amerikanischen Immobilienkredite hin zu den strukturierten und verbrieften Anleihen, die am Ende bei einem biederen deutschen Landesbanker landeten, oft genug beschrieben worden ist. Nein, kehren wir vor der eigenen Haustür und gehen wir der Frage nach, wie und vor allem warum Hedgefonds, Kreditausfallversicherungen, Leerverkäufe, Derivate und vor allem die unheilige Macht von Investmentbankern und Ratingagenturen in den letzten Jahren scheinbar wie aus dem Nichts über uns gekommen sind.

Shareholder Value als Prinzip

Der Einzug dessen, was selbst ein so kluger Beobachter wie der renommierte deutsche Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn mit dem Wort vom "Kasino-Kapitalismus" als Buchtitel bezeichnet, hat viel mit den Veränderungen in Deutschland in den letzten ein, zwei Jahrzehnten zu tun. Damals wandelte sich unter dem Stichwort der Globalisierung das, was man gerne als "Deutschland-AG" bezeichnet hatte. Ihr Ende wurde am deutlichsten Anfang 2000 absehbar, als der britische Mobilfunker Vodafone Mannesmann kaufte. Die lange Jahre bestehende enge Klammer zwischen Unternehmen, Banken und Versicherungen verhinderte dies nicht. Auch nicht die Allianz und die Deutsche Bank, in deren Beteiligungsportfolios bis dahin das Who's Who der deutschen Wirtschaft vertreten gewesen war. Eine neue Generation an der Spitze von Deutschlands führenden Konzernen wollte sie nicht mehr. Zum ersten Mal wurde der Shareholder Value erstmals wirklich in Deutschland betrieben. Und das nicht ohne Erfolg: Von der starken internationalen Ausrichtung profitieren die deutschen Firmen in diesen Jahren besonders. Der Boom in Schwellenländern und die beständig steigende Nachfrage aus China lässt besonders die deutsche Wirtschaft bis heute jubeln: Mittelständler und Konzerne rüsten erfolgreich die Welt mit Anlagen, Maschinen und Infrastruktur aus.

Grenzüberschreitendes Kapital

Hinzu kam die "New Economy". Erinnert man sich heute noch an einen Namen wie den von Thomas Haffa? Er trieb das kleine Medienunternehmen EM.TV erst auf einen Börsenwert von sechs Milliarden Euro, bevor im Jahr 2000 die Börsenblase platzte. Und was für die Unternehmen galt, galt erst recht für die Banken. Sie drängten - nicht zuletzt unter dem Druck einer wachsenden Globalisierung - hinaus in die Welt. Auch, mit Verspätung, die deutschen Banken. Das hat viel mit der zunehmenden Integration der einzelnen nationalen Finanzmärkte in das Weltfinanzsystem zu tun, die heute viel stärker als jemals zuvor eine "unkündbare Risikogemeinschaft" bilden. Die grenzüberschreitenden Geld- und Kapitalströme machen inzwischen ein Vielfaches der realwirtschaftlichen Ströme aus. So setzte ein zunehmender Wettbewerb zwischen den bedeutenderen Finanzplätzen der Welt ein, der darauf ausgerichtet war, den eigenen Anteil, vor allem an den internationalen Geldbewegungen und anderen Finanzaktivitäten, an sich zu ziehen.

Große Parketts im Visier

Denn bis dahin war der Kapitalmarkt der Bundesrepublik, immerhin die damals drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, bestenfalls belächelte Provinz. Die Börse in Frankfurt am Main konnte in keiner Weise mit den großen internationalen Finanzzentren wie Tokio, New York oder London mithalten. Ausländische Kapitalanleger mieden Deutschland weitgehend. Sogar einheimische Standardwerte wie Daimler-Aktien oder Bundesanleihen wurden häufiger in London als in Frankfurt gekauft. Das - so die Politik - sollte sich ändern. Grundlegend. Und es hat sich geändert. Heute plant das Unternehmen "Deutsche Börse", nach Versuchen, die Londoner Stock Exchange und die italienische Börse zu übernehmen, den Zusammenschluss mit der New Yorker Euronext. Frankfurt geht an die Wallstreet

Daran lässt sich ableiten, welch weiter Weg in den letzten zehn Jahren zurückgelegt wurde. Mit Unterstützung und ausdrücklicher Förderung durch die Politik. Den Anfang dazu machte - erinnert sich heute, wo wir über die europaweite Einführung einer Finanztransaktionssteuer diskutieren, noch jemand daran? - Bundeskanzler Helmut Kohl, als er 1991 in Deutschland die Börsenumsatzsteuer abschaffte. Sie behindere, so hieß es bis vor wenigen Jahren noch, die Mobilität des Finanzkapitals und liefe - im nationalen Alleingang - einer europäischen Integration der Finanzmärkte zuwider. Ein Jahr später holte Kohl die Europäische Zentralbank EZB nach Frankfurt, sein Finanzminister Theo Waigel legte ein "Konzept Finanzplatz Deutschland" vor und die Bafin, die Bundesanstalt für die Beaufsichtigung von Finanzdienstleistungen, wurde gegründet. Innerhalb kürzester Zeit konnte sich zudem die Deutsche Terminbörse, die erst 1990 ihre Tätigkeit aufgenommen hat, im Optionsbereich relativ rasch den ersten Rang in Europa erobern. "Ich bin erfreut", so der damalige Vorstand der Dresdner Bank, Gerhard Eberstadt, "dass die Politik dem Kapitalmarkt endlich den Stellenwert einräumt, den er verdient".

Eichels Finanzmarktplan

Deutschland und die Deutschen erlagen einem Börsenrausch und die Politik dem, was sie bis heute gleich in mehreren - nomen est omen - "Finanzmarktförderungsgesetzen" zur Erleichterung dazu beitragen konnte. 1996 ging die Deutsche Telekom erstmals an die Börse. 1,9 Millionen Bundesbürger zeichneten sie, 650.000 Privatanleger investierten dabei zum ersten Mal ihr Geld an der Börse. 2000 folgte - vielfach überzeichnet - Infineon, danach reihte sich ein Börsengang an den anderen. Geholfen hat dabei nicht zuletzt die seit 2001 geltende steuerfreie Veräußerung von Beteiligungsgewinnen. Die von Rot-Grün eingeführte Regelung motivierte zahlreiche Unternehmen, Tochtergesellschaften zu verkaufen. Dadurch erhöhte sich der Streubesitz bei den Anteilsscheinen der Konzerne. Zwei Jahre später, 2003, legte der damalige Finanzminister Hans Eichel (SPD) dann einen "Finanzmarktförderplan" vor. Damit wollte er nicht zuletzt schrittweise moderne Anlageinstrumente einführen und Geldhäusern den Umgang mit Kreditrisiken erleichtern. Risiken und Forderungen sollten leichter als Wertpapier am Kapitalmarkt gebündelt, "verbrieft" und in handelbare Anleihen umgewandelt werden können. Dies verschaffe, so der Minister damals, den Banken Luft für die Vergabe weiterer Kredite, weil das eigene Kapital auf diesem Weg entlastet würde und es die Risiken minimiere.

Boomende Hedge Funds

Darüber hinaus wurden Nachteile für ausländische Fondsgesellschaften abgeschafft und Hedgefonds in Deutschland zugelassen. "Der deutsche Finanzplatz ist mittlerweile reif genug, um mit alternativen Anlageinstrumenten umgehen zu können", resümierte der Finanzminister, der sich ehrlicherweise sicherlich nicht zum damaligen Zeitpunkt vorstellen konnte, wie "erfindungsreich" der Kapitalmarkt auf solche Einladungen seitens der Politik reagieren würde. Sehr schnell wurden diese so genannten "Asset Backed Securities" (forderungsbesicherte Anleihen) erneut verpackt und dann von anderen Banken an eigens dafür gegründete Zweckgesellschaften -zum Beispiel in Irland - weiterverkauft. Diese wiederum finanzierten fortan den Kauf der Forderungen oft, indem sie selbst via Schuldverschreibungen kurzfristige Kredite aufnahmen. Ein Teufelskreislauf, der auch noch mit dem Gütesiegel der von der Politik hierzu ausdrücklich beauftragten, aber ebenfalls bis heute kaum beaufsichtigten Ratingagenturen versehen wurde. Und in der Tat: Die boomende Branche der Hedge Funds hatte sich vor allem im Ausland etabliert. An ihren Erfolgen wollten nun auch die deutschen Banken - bis hin zu den Landesbanken - teilhaben. Sie reagierten auf die neuen Umfeldbedingungen mit sogenannten Allfinanzstrategien, das heißt mit dem Angebot praktisch aller gängigen Finanzdienstleistungen aus einer Hand, und trugen so innerhalb kürzester Zeit zum dynamischen Wachstum der außerbörslichen Märkte in derivativen Finanzinstrumenten bei, die heute von den Aufsichtsbehörden so kritisch beurteilt werden.

Die großen Finanziers

Begünstigt wurde diese Entwicklung durch weltweit reichlich verfügbare Liquidität sowie durch Leistungsbilanzungleichgewichte auf globaler Ebene und innerhalb des Euroraums. Ohne diese Faktoren wären der massive Schuldenzuwachs privater Haushalte und die Aufblähung der Immobilienpreise in den USA und in einigen Euromitgliedsländern kaum möglich gewesen. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass der Großteil der bis heute immer noch unregulierten Hedgefonds in den USA angesiedelt ist, das meiste Kapital aber bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise aus Europa kam. Denn zur Finanzierung ihres riesigen Haushaltsdefizits haben die Amerikaner jedes Jahr Wertpapiere im Betrag dieser Defizite ins Ausland gedrückt. China, Japan und Deutschland wurden so die drei großen Finanziers der Weltkapitalmärkte. Doch während China überwiegend so schlau war, amerikanische Staatsanleihen zu kaufen, um die sich Peking heute Sorgen macht, wurden die Amerikaner in Europa auf breiter Front fündig. Vor allem in Deutschland stießen sie dabei auf einen Finanzmarkt, der keine vor allem von der Politik unterstützte Tradition in der Bankenaufsicht hatte und auf den globalen Kapitalmärkten glaubte, endlich Versäumtes so schnell wie möglich aufholen zu müssen. Und vor allem auf Bankhäuser ohne eigentliches Geschäftsmodell, die mit am großen Finanzrad drehen wollten.

Boni als Antrieb

Dass sich dies bis zum Ausbruch der Immobilienkrise 2007 in den USA immer schneller drehte, hatte viel damit zu tun, dass sich die Amerikaner am Ende mit immer niedrigeren Preisen für immer waghalsigere Finanzprodukte zufrieden geben mussten, die immer höhere Renditen erbringen sollten. Dabei stießen sie auf Banker in Deutschland und andernorts, die ebenfalls hohe Renditen erzielen wollten - nicht zuletzt, weil davon die Höhe ihrer eigenen Boni abhing. Ein Teufelskreis begann, den nur mehr einer durchbrechen kann: die Politik.