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Das Jahr der Pflege 2.0

REFORM Im Bundestag stehen harte Auseinandersetzungen über ein zentrales Zukunftsthema an

02.01.2012
2023-08-30T12:17:22.7200Z
3 Min

Die Pflegeexperten der Oppositionsfraktionen sind bislang nicht als Heißsporne des Parlaments in Erscheinung getreten. Die von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) vorgelegten Eckpunkte einer Pflegereform treiben den Dreien jedoch in Nullkommanichts die Zornesröte ins Gesicht. "Es ist unverfroren zu behaupten, die Pflegeversicherung werde damit auf eine nachhaltigere Grundlage gestellt", empört sich Elisabeth Scharfenberg von den Grünen. Ihre SPD-Kollegin Hilde Mattheis ergänzt: "Bahr lässt mit seiner Pflegereform alle im Stich." Und Kathrin Senger-Schäfer von der Linksfraktion moniert, eine "umfassende Pflegereform" sei "auf unbestimmte Zeit verschoben, die "geschürten Erwartungen" seien "enttäuscht" worden.

Rückblende

Bahrs Vorgänger Philipp Rösler, heute FDP-Chef und Bundeswirtschaftsminister, hatte 2011 zum "Jahr der Pflege" erkoren. Was folgte, war ein monatelanger Streit der Koalitionspartner CDU, CSU und FDP vor allem über die Frage, wie die Pflegeversicherung künftig zu finanzieren ist. Die angekündigte Präsentation der Eckpunkte verzögerte sich, bis sich der Koalitionsausschuss am 310. Tages des "Jahres der Pflege" auf Grundzüge einigte. Mehr Geld für Demenzkranke, der Aufbau einer privaten Zusatzversicherung, eine Beitragsanhebung um 0,1 Prozentpunkte, Unterstützung für pflegende Angehörige und die Förderung neuer Wohnformen - so lauten die Eckpunkte, die Bahr im November vorstellte. Konkreteres, etwa wie der besondere Betreuungsaufwand für Demenzkranke berücksichtigt werden kann, ist bislang das Geheimnis des Gesundheitsministeriums.

Die Opposition fuchst insbesondere, dass die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs "auf die lange Bank geschoben wird", wie es Senger-Schäfer formuliert. Bis- lang werden zwar körperliche Beeinträchtigungen als pflegebedürftig berücksichtigt, geistige hingegen nicht, weshalb etwa Demenzkranke und ihre Angehörigen bei Pflegeleistungen in die Röhre gucken. Die Konzepte liegen seit gut zweieinhalb Jahren auf dem Tisch, Bahr will zur Ausarbeitung der Details jedoch zunächst den Pflegebeirat reaktivieren. Auf den allseits geschätzten Sozialexperten Jürgen Gohde an der Spitze des Gremiums muss Bahr allerdings verzichten. Gohde lehnte es kurz vor Weihnachten nach wochenlangen Vorgesprächen entnervt ab, den Vorsitz zu übernehmen.

"In der aktuellen Wahlperiode kann nicht mehr mit einer Umsetzung des neuen Pflegebegriffs gerechnet werden", sagt Senger-Schäfer. Sie fügt hinzu, die Behauptung, die angekündigten Leistungsverbesserungen für Demenzkranke, finanziert durch eine Beitragserhöhung ab 2013, seien ein Vorgriff auf den neuen Pflegebegriff, entbehre jeder fachlichen Grundlage. Eine kostenneutrale Umsetzung des Pflegebegriffs bedeute "de facto Leistungskürzungen für die jetzt Betroffenen", betont Senger-Schäfer.

Scharfenberg ist sich sicher, dass die angekündigten Leistungsverbesserungen mit der geplanten Beitragssatzanhebung "allenfalls kurzfristig" zu finanzieren sind. "Die zentralen Herausforderungen geht die Koalition nicht an, nämlich eine solide und nachhaltige Finanzierung und die überfällige Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs", unterstreicht die Grünen-Parlamentarierin.

Auch die als "Pflege-Bahr" bekannt gewordene private Zusatzversicherung nach Vorbild der Riester-Rente stößt bei der Opposition auf Widerstand. Davon würden "nicht die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen profitieren, sondern vornehmlich die privaten Versicherungsunternehmen", ärgert sich Hilde Mattheis. Gerade ärmere Menschen, "die ein höheres Pflegerisiko haben, werden sich die freiwillige Zusatzversicherung nicht leisten können", sagt sie.

Gegenwind kommt jedoch nicht nur von der Opposition. Unzufrieden hat sich auch die Junge Gruppe der Unionsfraktion gezeigt. Sie kritisiert, dass der Koalitionsvertrag gebrochen worden sei. Tatsächlich sieht dieser vor, neben dem bestehenden Umlageverfahren "eine Ergänzung durch Kapitaldeckung" einzuführen, "die verpflichtend, individualisiert und generationengerecht ausgestaltet sein muss". Ziel war es demnach, eine Rücklage zu schaffen, aus der künftig steigende Pflegaufwendungen bezahlt werden können. Der Sprecher der Jungen Gruppe in der Unions-Fraktion, Marco Wanderwitz (CDU), bemängelt, was den jüngeren Generationen versprochen worden sei, werde "nicht geliefert".

Kritik zurückgewiesen

Die pflegepolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus, lässt die Kritik so nicht gelten. Mit den vereinbarten Eckpunkten sei "endlich der Einstieg in die freiwillige private Zusatzvorsorge für das Pflegerisiko gemacht". Schließlich lasse sich nicht "alles, was in den letzten Jahren versäumt" wurde, "auf einen Schlag" beheben. "Der Weg für eine bessere Pflege ist aber geebnet", betont die FDP-Abgeordnete. Auch der Pflege-Experte der Unions-Fraktion, Willi Zylajew (CDU), findet lobende Worte: "Die Eckpunkte zeigen deutlich unsere Schwerpunkte auf, nämlich erstens eine bessere Berücksichtigung von Demenzkranken, zweitens eine weitere Stärkung des Grundsatzes 'ambulant vor stationär' und drittens die Entlastung von pflegenden Angehörigen."

Die Oppositionsfraktionen plädieren unterdessen für die Einführung einer Bürgerversicherung auch in der Pflege und haben dazu jeweils eigene Ansätze entwickelt. Im Bundestag steht zum Thema Reform der Pflegeversicherung ein Jahr harter Auseinandersetzungen bevor.