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Winterharte Rose

ÉLYSÉE-VERtRAG Vor fast 50 Jahren begründeten Adenauer und de Gaulle eine neue Beziehung der früheren »Erbfeinde«

16.04.2012
2023-08-30T12:17:30.7200Z
6 Min

Anfang kommenden Jahres ist Goldene Hochzeit. Das Paar wirkt ein wenig zersaust, aber ganz zufrieden miteinander. Damals, vor 50 Jahren, war es eher eine Vernunftehe denn eine Liebesheirat, obwohl Leidenschaft stets Teil der Beziehung war. Gewiss, der deutsche Michel und die französiche Marianne gehen sich gelegentlich gehörig auf die Nerven und so ganz verstehen sie nicht immer, was der andere gerade so treibt. Aber im Großen und Ganzen verbindet sie im Jahr 2012 eine verlässliche, freundschaftliche und bisweilen herzliche Beziehung. Hätten der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 dies geahnt, so wären sie sich nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages womöglich noch herzlicher in die Arme gefallen. Denn nur 18 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war diese Entwicklung nicht abzusehen. Der Bundestag will anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags die französichen Abgeordneten der Nationalversammlung nach Berlin einladen - nachdem die deutschen Parlamentarier zum 40. Jubiläum zu Gast in Frankreich waren.

Rückblende

Es war ein klirrend kalter Wintertag, als General de Gaulle und Adenauer am frühen Abend im Pariser Élysée-Palast, dem Amtssitz des französischen Präsidenten, den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit unterzeichneten. In dem Abkommen verpflichteten sich die beiden Nachbarn zu Konsultationen in allen wichtigen Fragen der Außen-, Verteidigungs- Bildungs-, Jugend- und Kulturpolitik. Regelmäßige Treffen zwischen den Regierungschefs und den zuständigen Ressortministern sowie hoher Beamter beider Länder sollten die Umsetzung des Vertrages gewährleisten. Aus erbitterten Kriegsgegnern sollten Partner werden - für viele eine Sensation. Für Adenauer war es "seine wichtigste Tat in all den vierzehn Jahren seiner Kanzlerschaft", wie er wenig später in der "New York Times" bekannte. Es sollte auch seine letzte große Tat vor seinem Ausscheiden aus dem Amt im Herbst 1963 werden.

In einer kurzen Gemeinsamen Erklärung zum Vertrag wurden die drei wichtigsten Ziele der Vereinbarung genannt: die Aussöhnung der in jahrhundertelanger "Erbfeindschaft" verbundenen Staaten, die Begründung einer echten Freundschaft zwischen den beiden Völkern, insbesondere der Jugend, und die Förderung des Aufbaus eines einigen Europas. Nachdem Adenauer und de Gaulle sowie die Außenminister Gerhard Schröder und Maurice Couve de Murville und Frankreichs Ministerpräsident Georges Pompidou den Vertrag unterzeichnet hatten, äußerte sich der General sichtlich bewegt: "Übervoll ist mein Herz und dankbar mein Gemüt" - niemand auf der Welt könne "die überragende Bedeutung dieses Aktes verkennen". Nicht nur wende sich "das Blatt einer langen und blutigen Geschichte der Kämpfe und Kriege, sondern zugleich öffnet sich das Tor zu einer neuen Zukunft für Deutschland, für Frankreich, für Europa und damit für die Welt". Adenauer erwiderte: "Herr General, Sie haben es so gut gesagt, dass ich dem nichts hinzufügen könnte." Den deutschen Bundeskanzler bedachte de Gaulle hernach mit dem Wangenkuss - à la française - links und rechts.

Symbolisches Signal

Der Élysée-Vertrag ist fraglos ein zentrales Dokument der Aussöhnung. Allerdings wäre er, da ist sich die historische Forschung einig, nicht ohne einen jahrelangen Annäherungsprozess zwischen Deutschland und Frankreich möglich gewesen. Einer, der diesen unermüdlich vorangetrieben hatte, war Robert Schuman. Der französische Außenminister von 1948 bis 1952 und spätere erste Präsident des Europäischen Parlaments erklärte am 9. Mai 1950: "Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird." Franzosen und Deutsche waren zu der Auffassung gelangt, dass nur ein Schlussstrich unter die "Erbfeindschaft" einen neuen Krieg beider Staaten verhindern könne. Mit der Begründung der Montanunion im Jahr 1952, der auf dem Schuman-Plan für eine Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion fußte, war auf dem Weg dorthin ein erster Schritt getan. Ein zweiter folgte mit dem Inkrafttreten der Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Anfang Januar 1958. Das entscheidende symbolische Signal für das Ende der Feindschaft gaben Adenauer und de Gaulle selbst am 8. Juli 1962 mit ihrer Teilnahme am Versöhnungsgottesdienst in der Kathedrale von Reims.

Korrekturen im Bundestag

Der Bundestag ratifizierte den Vertrag am 15. Mai 1963, ergänzte ihn aber mit einer Präambel im Ratifikationsgesetz. Das darin formulierte Bekenntnis zur Partnerschaft mit den USA und zur Integration in die Nato und die EWG sorgte auf der französischen Seite für Missstimmung - war es doch das Gegenteil dessen, was de Gaulle mit dem Vertrag erreichen wollte. Mit dem Freundschaftsvertrag strebte der ein Gegengewicht zu den USA an. Zudem hatte der General erst kurz zuvor einen Beitritt Großbritanniens zur EWG ausgeschlossen. Bis weit in die CDU/CSU-Fraktion hinein fürchteten die Bonner Parlamentarier, mit der Ratifizierung des Élysée-Vertrages in die auf Distanz zu den USA und Großbritannien bedachte Außenpolitik Frankreichs gezogen zu werden - und verabschiedeten die umstrittene Präambel.

Der Erfolg des Élysée-Vertrages war damit mehr als unsicher, wie eine Episode zeigt, über die unter anderen das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" in seiner Ausgabe vom 10. Juli 1963 ausführlich berichtete. "Verträge sind wie Rosen und junge Mädchen, sie haben ihre Zeit", monierte demzufolge de Gaulle am 2. Juli 1963. Für verblüht hielt der Präsident den Elysée-Vertrag just an dem Tag, an dem dieser in Kraft trat. Adenauer reagierte auf die Kritik beim festlichen Abendessen im Palais Schaumburg bei de Gaulles Besuch in der Bundesrepublik am 4. Juli 1963: "Aber die Rose - und davon verstehe ich nun wirklich etwas, das lasse ich mir von niemandem bestreiten - ist die ausdauerndste Pflanze, die wir überhaupt haben." Der Bundeskanzler fügte den Angaben zufolge hinzu: "Jawohl, diese Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland ist wie eine Rose, die immer wieder Blüten bringt, die immer wieder Knospen treibt und wiederum Blüten bringt und die alle Winterhärten glänzend übersteht."

Mit Leben erfüllt

Der erfahrende Rosenzüchter Adenauer sollte Recht behalten. Insbesondere mit der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks am 5. Juli 1963, mit dessen Unterstützung sich Millionen Jugendliche aus beiden Ländern kennen- und verstehen lernten, sowie den in den Folgejahren zahlreich entstehenden deutsch-französischen Städte- und Gemeindepartnerschaften wurde der Vertrag mit Leben erfüllt. In Ergänzung des Abkommens setzten Bundeskanzler Helmut Kohl und Frankreichs Staatspräsident François Mitterand anlässlich des 25. Jahrestages der Unterzeichnung im Jahr 1989 einen Verteidigungs- und Sicherheitsrat, einen Umweltrat, einen Finanz- und Wirtschaftsrat sowie einen Kulturrat ein. Seit 2001 finden infolge des Blaesheim-Abkommens zudem etwa alle acht Wochen Treffen beider Regierungschefs zum informellen Austausch über wichtigsten internationalen, europäischen und bilateralen Themen statt.

Am 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages am 22. Januar 2003 fand das erste Treffen des deutsch-französischen Ministerrates im Élysée-Palast statt. Seither kommen halbjährlich die Kabinette beider Staaten zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen. Höhepunkt der 40-Jahrfeier war jedoch die erste gemeinsame Sitzung der Abgeordneten der Assemblée Nationale und des Bundestages in Versailles. Sie verabschiedeten eine Erklärung zur Intensivierung der gemeinsamen Gesetzgebungsarbeit. Unter anderem beschlossen die Abgeordneten regelmäßige gemeinsame Präsidiumssitzungen, eine Kooperation der Ausschüsse sowie den Austausch von Beamten. Zudem wurde der 22. Januar zum "deutsch-französischen Tag" proklamiert.

Ausblick

Zehn Jahre später sollen nun die französischen Abgeordneten sowie die Regierung zu Gast Berlin sein. Am Nachmittag des 22. Januar 2013 werden nach jetzigem Stand der Planungen Parlamentarier beider Länder gemeinsam im Plenarsaal tagen. Vorgesehen ist die Verabschiedung einer gemeinsamen zukunftsorientierten Erklärung zum deutsch-französischen Verhältnis. Bereits am Vormittag soll es eine erweiterte deutsch-französische Präsidiumssitzung geben, an der neben den Parlamentspräsidenten und Vizepräsidenten auch die Fraktionsvorsitzenden sowie die Europaausschuss-Vorsitzenden teilnehmen. Auch die Bundesregierung plant zahlreiche Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags.

Anders als manches alte Ehepaar werden Abgeordnete und Regierungsvertreter Deutschlands und Frankreichs zur Goldenen Hochzeit genug Gesprächsstoff haben. Die Aufregung, die der sozialistische Bewerber um das französische Präsidentenamt, François Hollande, mit seiner Ankündigung auslöste, der Élysée-Vertrag müsse grundlegend überarbeitetet werden, hat gerade erst gezeigt, wieviel Leidenschaft in der Beziehung steckt.