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Straßburg warnt vor Aushöhlung der Demokratie

EUROPARAT Parlamentarische Versammlung kritisiert soziale Schlagseite der Sparpolitik Europas in der Schuldenkrise

02.07.2012
2023-08-30T12:17:33.7200Z
3 Min

Für den Schweizer Delegierten Andreas Gross ist die "Demokratie eines der Hauptopfer der Krise". In vielen Staaten gerate die Politik unter den Druck der Märkte und der internationalen Finanzinstitutionen, klagt der Sozialdemokrat. "Die junge Generation wird der Krise geopfert", ruft der italienische Konservative Luca Volontè pathetisch aus. Der liberale Slowene Roman Jakic warnt, die dramatisch hohe Jugenderwerbslosigkeit berge "Sprengsatz" für die Zukunft in sich, etwa für die Rentensysteme.

Ungewohnte Töne

Im Straßburger Palais de l'Europe waren bei der Sommersession der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ungewohnte Töne zu vernehmen. Eigentlich ist es dessen Sache, sich für freiheitliche Rechtsstaatlichkeit und für politische Grundfreiheiten zu engagieren. Dieses Mal aber debattierten die 318 Delegierten aus den nationalen Abgeordnetenhäusern der 47 Mitgliedsnationen an mehreren Tagen mehrere Berichte über die sozialen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die nachdrückliche Botschaft aus Straßburg: Die massive, vor allem auf Einschnitte im Sozialbereich zielende Sparpolitik, die in vielen Staaten verfolgt werde, "bedroht die sozialen Rechte" und dies besonders bei den "am stärksten betroffenen Bevölkerungsschichten". So steht es in einer vom deutschen Delegierten und Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko (Linke) im Auftrag des Sozialausschusses eingebrachten Resolution, die zwar von einigen konservativen und liberalen Abgeordneten kritisiert, dann aber von einer breiten Mehrheit verabschiedet wurde.

Gewiss, auch die Straßburger Volksvertreter können kein Patentrezept als Lösung der Finanzkrise aus dem Hut zaubern. Im internationalen Konzert hat es jedoch durchaus Gewicht, wenn eine paneuropäische Instanz wie das Parlament des Europarats angesichts der sich vielerorts verschärfenden sozialen Probleme von steigender Arbeitslosigkeit bis wachsender Altersarmut auf die Wahrung der sozialen Rechte und der Würde der Krisenopfer pocht.

Die Straßburger Abgeordneten forderten ein Ende der Kürzungen im Sozialbereich, Steuererhöhungen für Besserverdienende, Impulse zur Förderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums mit der Schaffung "qualifizierter Jobs", eine konsequentere Regulierung des Finanzsektors und konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit. Vor allem beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf müsse jungen Leuten gezielt geholfen werden. Die heranwachsende Generation dürfe nicht "mit Absichtserklärungen abgespeist werden", insistierte der Italiener Volontè. In Hunkos Bericht heißt es, nötig sei eine "tiefgreifende Neuorientierung der Sparprogramme", die sich nicht mehr in erster Linie auf Einschnitte bei Renten, Gesundheitsleistungen, Familienhilfen oder bei der Unterstützung für Behinderte und Erwerbslose konzentrieren dürften.

Hunko sagte vor dem Europaratsparlament, die Staatsverschuldung sei in vielen Ländern gestiegen, weil die Regierungen kriselnden Banken helfen müssten, und da sei es ungerecht, zur Bewältigung der staatlichen Finanzmisere vor allem im sozialen Sektor zu streichen.

Viel Beifall erntete der isländische Finanzminister Steingrimur Sigfusson bei einem Auftritt im Palais de l'Europe. Es gehe nicht an, Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren. Sigfusson: "Warum sollen Steuerzahler einspringen, wenn Banken Schwierigkeiten bekommen?" Er empfahl als Krisenstrategie das isländische Konzept: Kürzungen im Etat seien durchaus nötig, doch müsse dies ergänzt werden durch Wachstumsförderung, Steuererhöhungen auf progressiver Basis und die Sicherung des Sozialstaats.

Dem Europarat ist es im Übrigen nicht zuletzt darum zu tun, die Demokratie nicht unter die Räder geraten zu lassen. Die Abgeordneten verlangten mehr Mitsprache der Parlamente in der Krisenpolitik, auch die direkte Demokratie müsse gestärkt werden, etwa über Volksentscheide. Das ist ganz im Sinne des Schweizers Gross, des Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion: Die Politik müsse wieder in die Lage versetzt werden, "das europäische Sozialmodell und die Freiheit der Bürger zu verteidigen".