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Politik mit langem Atem

EUROPA-REDE EP-Präsident Martin Schulz warnt davor, die Parlamente in Krisenzeiten an den Rand zu drängen

12.11.2012
2023-08-30T12:17:41.7200Z
3 Min

Der Präsident des Europaparlaments verdeutlicht es mit einem Wortspiel: Die EU als ein "Langzeit-Projekt, das immer Langzeit-Dividenden abgeworfen hat", verdiene eine "Langzeit-Perspektive" über die Tagespolitik hinaus: Mit diesen Worten rief Martin Schulz am vergangenen Freitag im Paul-Löbe-Haus des Bundestages dazu auf, die "Politik des Durchwurstelns zu beenden" und zu einer Politik der Langfristigkeit zurückzukehren.

Schulz betonte, dass eine über den aktuellen Ereignisdruck hinausweisende Politik von Anfang an wesentlich zur sozialen und demokratischen Stabilisierung Europas beigetragen habe. Gleichzeitig kritisierte der SPD-Politiker, dass im Zuge der Krisenbewältigung die Parlamente auf nationaler und europäischer Ebene "zusehends an den Rand gedrängt" würden: Der Trend der "Vergipfelung", die Zunahme der Treffen des Europäischen Rats, bei denen immer mehr Details entschieden würden, "höhlt die Demokratie aus." Dieses Vorgehen erinnere ihn an den Wiener Kongress im 19. Jahrhundert.

Historischer Ort

Seine Rede hielt Schulz nicht nur an einem historischen Tag, dem 9. November, sondern auch an einem Ort mit wechselvoller Geschichte. Denn im Paul-Löbe Haus des Deutschen Bundestages, in dem heute die Ausschüsse des Parlaments tagen, lag vor 23 Jahren noch das Niemandsland des westlichen Mauerstreifens. Mit der "Europa-Rede", die erstmals 2010 in Berlin gehalten wurde, erhoffen sich die Veranstalter, die Stiftung Zukunft Berlin, die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Robert-Bosch-Stiftung Denkanstöße jenseits der Tagespolitik - und damit Orientierung für das Ziel eines vereinten Europa. Im vergangenen Jahr sprach EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, zum Start 2010 war Rats-Präsident Hermann Van Rompuy der Gastredner.

Als erster Vertreter des Europäischen Parlaments warf Schulz in seiner Rede manchen Regierungen vor, an der "Fiktion nationalstaatlicher Souveränität" festzuhalten. Deshalb würden Brüsseler Gipfel inszeniert, bei denen nationale Interessen durchgeboxt und die Ergebnisse zu Hause als "Sieg verkauft würden". Die Volkswirtschaften, sagte Schulz, seien jedoch bereits untrennbar miteinander verknüpft, ein Land könne alle anderen in den Abgrund reißen: "Entweder gewinnen wir alle oder verlieren wir alle." Auf unkontrollierten Finanzmärkten würden Nationalstaaten zum "Spielball der Finanzinteressen". Nötig seien daher supranationale Lösungen, die aber parlamentarisch legitimiert sein müssten, sagte der Sozialdemokrat. Regierungschefs dürften nicht "in intergouvernementalen Foren hinter verschlossenen Türen" Absprachen treffen, die von den heimischen Parlamenten nur noch durchgewinkt werden sollen.

Viele Opfer der Krise

Gleichzeitig warnte Schulz aber auch vor gegenseitigen Beschuldigungen. Die Deutschen sähen sich als Zahlmeister für den Schlendrian anderer in Haftung genommen. Andere Völker hingegen begriffen sich als Leidtragende einer von außen aufoktroyierten, in Berlin beschlossenen Sparpolitik: "Dabei sind sie alle Opfer der Finanzkrise" - die einen zahlten mit ihrem Steuergeld für Garantien, die anderen durch Kürzungen von Leistungen. In der angespannten Lage falle die "Hetze von Populisten und Extremisten" auf fruchtbaren Boden, sorgte sich der Präsident der EU-Volksvertretung. Fremdenfeindlichkeit sei auf dem Vormarsch. So werde leichtfertig über "faule Südländer" gesprochen. Dass die deutsche Bundeskanzlerin in Griechenland in Nazi-Uniform abgebildet werde, kritisierte Schulz aufs schärfste.

Der Sozialdemokrat erinnerte daran, dass die Nachkriegsgeneration mit großer Weitsicht einen Sozialstaat aufgebaut habe, um den gesellschaftlichen Frieden zu sichern und die jungen Demokratien zu stabilisieren. Aus Sicht von Schulz gehören zur Gewährleistung von sozialer Gerechtigkeit damals und heute Mitbestimmung, Renten, Arbeitslosenversicherungen sowie der Zugang zu Bildung und Gesundheit. An diese Errungenschaften dürfe man nicht unter dem "Diktat der Märkte" die Axt anlegen.

Gefahr für die Demokratie

Wenn heute wieder von einer "verlorenen Generation" die Rede sei, "dann muss uns das aufschrecken lassen". In Griechenland und Spanien sei jeder zweite junge Bürger ohne Arbeit, dies "untergräbt das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen", warnte Schulz. Der EU-Politiker warb für den Euro als gemeinsamer Währung. Zuvor hatte sich Norbert Lammert überzeugt gegeben, dass im Kontext der Finanzkrise letztlich eine "Revitalisierung" parlamentarischer Zuständigkeiten beginne. Aus der Krise würden auch ein neuer Impuls und ein neuer Integrationsschub für die EU erwachsen, sagte der Bundestagspräsident in seiner Begrüßung. Der CDU-Politiker mahnte, im globalen Rahmen würden die Europäer künftig "nur gemeinsam eine Rolle oder gar keine Rolle spielen". Wie Schulz rief Lammert die friedenspolitische Leistung der EU in Erinnerung, was nach wie vor ein Motiv für die europäische Einigung sei.