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Vom Gestern zum Morgen

USA Nach der Wahl muss Präsident Obama das Land aus der politischen Blockade führen - und eine Zeitenwende anstoßen

12.11.2012
2023-08-30T12:17:41.7200Z
7 Min

Auf den ersten Blick wenig Neues im Westen. Amerika hat den "Status Quo" in der Präsidentschafts- und Kongresswahl bestätigt. Der Demokrat Barack Obama bleibt Herr im Weißen Haus. Die Republikaner behaupten ihre klare Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Und im Senat verteidigen die Demokraten ihren knappen Vorsprung vor den Konservativen. Wird sich dann auch "Gridlock" fortsetzen - die parteipolitische Blockade, die den politischen Betrieb in den letzten zwei Jahren gelähmt hat? Das kann so kommen, muss aber nicht so sein. Denn auf den zweiten Blick ist die Wahrscheinlichkeit, dass Bewegung in die starren Fronten gerät, größer. Erstens sind die Probleme der USA viel zu bedrohlich, als dass sich die politische Klasse Stillstand erlauben darf. Das beginnt mit dem "Fiscal Cliff", das Amerika in eine mutwillig herbeigeführte Rezession stürzen könnte, wenn Präsident und Parlament sich nicht vor Jahresende darauf einigen können, eine Einigung zum Abbau des Staatsdefizits zu finden. Sollte dies nicht der Fall sein, würden für alle Einkommensgruppen die Bundessteuern auf das Niveau von 2001 steigen.

Die Zeichen für einen Kompromiss stehen gut. Bereits am Tag nach der Wahl telefonierten Barack Obama und der republikanische "Speaker" des Abgeordnetenhauses, John Boehner, miteinander, um die groben Linien einer Annäherung auszuloten. Zweitens müssen beide Lager nun Seelenforschung betreiben, warum die Wähler ihre jeweiligen Hoffnungen nicht erfüllt haben. Das gilt ganz besonders für die Republikaner. Sie hatten 2012 eine denkbar gute Ausgangsposition, alle drei Institutionen unter ihre Kontrolle zu bringen: Weißes Haus, Abgeordnetenhaus und Senat. Der Amtsinhaber war angeschlagen, die Zustimmung zu ihm lag seit langem unter 50 Prozent. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung sah das Land auf dem falschen Weg, zeitweise waren es über 70 Prozent. Die anhaltend hohe Arbeitslosenrate und das laue Wirtschaftswachstum sprachen gegen Obama. Mit solchen Zahlen gewinnt ein Präsident normalerweise keine Wiederwahl. Und doch haben die Republikaner zwei dieser drei Kämpfe verloren. Was müssen sie ändern, um bei der Kongresswahl 2014 und der Präsidentenwahl 2016 besser abzuschneiden?

Zweifel an zu viel Staat

Auch die Demokraten haben Anlass zum Nachdenken. Sie stellen weiterhin den Präsidenten und kontrollieren den Senat, aber insgesamt kann der Wahlausgang nicht als Bestätigung ihres Programms gelesen werden. Dafür ist der Erfolg der Konservativen bei der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses zu deutlich. Nicht einmal die Hoffnung, dass der rechte "Tea Party"-Flügel deutlich dezimiert würde, hat sich erfüllt.

Die tiefe Spaltung des Landes setzt sich fort. Es hat sich auch nichts geändert an den großen Zweifeln, die eine Mehrheit der Amerikaner dem Staat entgegenbringt. Die Regierung soll sich nicht zu sehr in das Leben der Bürger einmischen, heißt die amerikanische Devise. Eigenverantwortung ist in amerikanischen Augen staatlicher Fürsorge vorzuziehen. Deshalb ist die Skepsis gegen die Gesundheitsreform, gegen schärfere Regeln für die Finanzaufsicht und gegen eine von oben regulierte Energiewende so groß. Die politische Mitte der USA liegt deutlich weiter rechts als in Deutschland, die Wahl hat das bestätigt.

Wenn das so ist, warum bekommt Obama dennoch eine zweite Amtszeit? Amerika sieht sich an einer Zeitenwende vom Gestern zum Morgen. Die alten Gewissheiten tragen nicht mehr oder müssen zumindest an die neuen Koordinaten der globalisierten Welt angepasst werden. Dieses Gefühl war entscheidend für den Wahlausgang, wichtiger noch als Arbeitslosenrate, Wirtschaftswachstum und Schuldenlast. Der überraschend klare Ausgang der Präsidentschaftswahl spiegelt diese Dynamik. Obama hat weit besser abgeschnitten, als erwartet. Trotz der negativen ökonomischen Gesamtstimmung gewann er nahezu alle Swing States, die auf der Kippe standen.

Mann der Zukunft

Die Präsidentenwahl ist in erster Linie eine Persönlichkeitswahl und erst in zweiter Linie eine Entscheidung für das eine oder das andere Sachprogramm. Für die Mehrheit der Amerikaner verkörpert Obama die Führungspersönlichkeit, die das Land in diesen Umbruchzeiten braucht, besser als Mitt Romney. Romney ist ein Mann der Vergangenheit: weiß, reich, klassische Elite. Obama wirkt wie ein Mann der Zukunft: multiethnische Identität, geboren auf Hawaii, im Pazifik; mehrere Kindheitsjahre hat er in Asien verbracht, in Indonesien. Er ist ein Aufsteigertyp, der das Reservoir der Elite erweitert, und ein Mensch mit Gespür für neue Strömungen.

Das betrifft einerseits die technische Revolution, die er für seinen Internetwahlkampf nutzte. Auch da triumphierte moderne Technik über klassische Methoden. Andererseits geht es um soziale Trends. Parallel zur Präsidenten- und Kongresswahl stimmten die Amerikaner mancherorts über die Legalisierung von Marihuana und die Gleichstellung der Homo-Ehe ab. Die Republikaner stemmen sich gegen solche Entwicklungen. Überwiegend - freilich nicht überall - sagen die Wähler den Konservativen, dass sie sich bewegen müssen. Sonst stehen sie "auf der falschen Seite der Geschichte", wie man in Amerika gerne sagt. Die USA sind ein Einwanderungsland, den größten Zuwachs erfahren deit Jahren die Latinos. Sie sind ein entscheidender Teil der bunten Koalition, die Obama für eine zweite Amtszeit gewählt hat. Die Republikaner müssen ihnen etwas anbieten, wenn sie künftig Wahlen gewinnen wollen. So enthält der Ausgang vor allem eine Botschaft an beide Lager: Vergesst die Ideologien. Die Mehrheit der Wähler wünscht praktische Lösungen. Obama hat keinen Auftrag, mit verstärkter Vehemenz einen Reformkurs fortzusetzen, der die USA näher an Europa heranführt.

Neue gesellschaftliche Realitäten

Er wird Abstriche an seinen Entwürfen machen, wenn er, zum Beispiel, erneut ein Energiewendegesetz vorlegt. Die Amerikaner wollen schon, dass erneuerbare Energien eine größere Rolle spielen. Sie wollen es aber nicht von oben vorgeschrieben bekommen. Der Staat hat aus ihrer Sicht nicht das Recht, den Wandel mit Subventionen und scharfen Vorgaben zu forcieren. Die Entwicklung muss aus dem Markt kommen, technische Neuerungen sollen helfen, nicht Ökosteuer oder der Zwang zum C0-2-Handel.

Die Republikaner dürfen sich wiederum nicht länger der neuen gesellschaftlichen Realität verweigern. Sie müssen sich stärker an Latinos, Asiaten und Schwarze wenden. Wenn sie sich weiter fast ausschließlich auf die herkömmliche Wählerschaft älterer Weißer stützen, werden sie sehr bald strukturell unfähig sein, Mehrheiten zu erringen. Sie müssen sich, zum Beispiel, bei der Reform des Einwanderungsrechts bewegen.

Amerika hat also eine Machtbalance gewählt - oder, wie man in den USA sagt: "divided government". Präsident Obama soll die neuen Strömungen aufnehmen und das Land in die Zukunft führen. Die republikanische Mehrheit soll darauf achten, dass dies ohne ideologischen Überschwang geschieht.

Barack Obama wird sich in der zweiten Amtszeit von seiner Partei lösen und als Präsident über den Lagern positionieren. Die Republikaner müssen sich dazu durchringen, die ausgestreckte Hand zu ergreifen und die Eiferer vom rechten Flügel zu ignorieren. Dann kann das vollmundige Versprechen, das Obama in seiner Siegesrede gab, womöglich Realität werden: "The best is yet to come!" - "Das Beste liegt noch vor uns". Ein erster Test folgt bereits vor dem Jahresende. Präsident und Parlament müssen durch gemeinsames Handeln vermeiden, dass die USA in eine selbst herbeigeführte Rezession stürzen. Dieses Szenario nennt man "Fiscal Cliff". Drei Faktoren verstärken sich dabei gegenseitig und würden dazu führen, dass der Volkswirtschaft im Jahr 2013 bis zu 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) an Kaufkraft entzogen werden.

Fiscal Cliff

Erstens laufen zum Jahresende die reduzierten Sätze für die Einkommensteuer aus, die unter George W. Bush für eine befristete Zeit eingeführt worden waren, um die Konjunktur nach den Anschlägen vom 11. September 2001 anzukurbeln. Der Kongress hatte sie immer wieder verlängert, aber nicht permanent gemacht. Wenn die Bürger höhere Steuern zahlen, fehlt ihnen dieses Geld zum Konsum. Zweitens wird auch der Staat weniger Geld ausgeben können. Er nimmt zwar mehr ein, wenn die Steuersätze steigen. Aber das Parlament hatte automatische Kürzungen für 2013 beschlossen, als es im Sommer 2011 die gesetzliche Schuldenobergrenze erhöhte. Eigentlich war das eine List, damit Demokraten und Republikaner sich auf Budgetkürzungen von mehr als 200 Milliarden Dollar pro Jahr einigen. Das haben sie im Wahlkampfjahr 2012 jedoch nicht getan. Und so droht nun die angedrohte Strafe einzutreten: drastische Kürzungen beim Militär, was die Republikaner nicht wollen, und Einsparungen bei sozialen Leistungen, was die Demokraten ablehnen. Drittens wird auch die Wirtschaft 2013 weniger Geld für Investitionen haben. Für die Betriebe erhöht sich zum Jahreswechsel die "Payroll Tax": die Sozialabgaben auf die Lohnsumme. Der Beitragssatz war befristet herabgesetzt worden, um die Konjunktur nach der Finanzkrise zu stimulieren.

Nach allgemeiner Erwartung wird der Kongress das "Fiscal Cliff" vermeiden. Er könnte die Steuervergünstigungen noch einmal verlängern. Oder die beschlossenen Einsparungen aufschieben. Oder eine Kombination aus beidem beschließen. Das würde die drohende Rezession abwenden.

In der Konsequenz erhöhen sich dann aber die Schulden. Sie betragen derzeit schon über 16 Billionen Dollar; das entspricht mehr als hundert Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Fehlbeträge im Budget würden weiter aus neuen Krediten finanziert. Die Vereinigten Staaten befinden sich zwischen Pest und Cholera - Rezession und Überschuldung. Es genügt nicht, dass Parlament und Präsident die Pest abwenden. Sie müssen auch etwas gegen das Übel der Cholera tun. Im besten Fall meinen Barack Obama und John Boehner es ernst mit der neuen Partnerschaft. Das hilft Amerika - und damit auch Europa.

Der Autor ist Amerika-Korrespondent des "Tagesspiegels". Er hat kürzlich das Buch veröffentlicht: "Der neue Obama. Was von der zweiten Amtszeit zu erwarten ist", Orell Füssli Verlag, Zürich 2012, 14,95 €