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Der nukleare Rheingraben

Atomkraft Frankreich kann auf die Kernenergie noch lange nicht verzichten. Gewerkschaften gegen AKW-Schließung

02.01.2013
2023-08-30T12:23:50.7200Z
3 Min

Im September 2011, ein halbes Jahr nach Fukushima, kommt es auf dem Gelände der südfranzösischen Atomanlage Marcoule zu einer Explosion. Ein Arbeiter verbrennt, vier Menschen werden verletzt. Alle deutschen Medien berichten darüber. Die französischen auch, aber nicht sehr groß. Es sei keine Radioaktivität ausgetreten, erklärt die französische Atomaufsichtsbehörde ASN. Der Mitbetreiber von Marcoule, der Stromriese Électricité de France (EDF), spricht von einem "industriellen Zwischenfall" und nicht von einem Atomunfall. Das war's.

Zustimmung wächst

Wenig unterscheidet die Franzosen so sehr von den Deutschen wie ihre Haltung zur Atomenergie. Nicht, dass sie alle begeisterte Befürworter der Kernkraft wären. Schon vor Fukushima äußerte sich in Umfragen nur knapp die Hälfte der französischen Bevölkerung positiv zur Atomenergie, der Rest war skeptisch oder unentschieden. Kurz nach Fukushima, im Juli 2011, stellte das IFOP-Institut mit 32 Prozent Kernkraft-Befürwortern einen Tiefstand fest. Im März 2012 waren dann aber schon wieder 37 Prozent für Kernenergie, 13 Prozent dagegen und 36 Prozent unentschlossen.

Auch Franzosen, die Bedenken gegen Atomenergie haben, wollen sie deswegen nicht um jeden Preis loswerden. Schließlich werden gut drei Viertel des Stroms im Land mit Kernspaltung erzeugt, er ist dadurch relativ preiswert, und bisher ist nichts Gravierendes passiert. Zudem ist die Atomwirtschaft auch eine Sache des Prestiges, entstanden im Zusammenhang mit dem Aufbau der Atomstreitmacht. Und schließlich ist die Atomindustrie, auch wenn sie nur ein Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, ein Exportschlager, den man angesichts eines Außenhandelsdefizits von 70 Milliarden Euro (2011) nicht aus der Hand geben will.

Proteste gegen Atomanlagen gab es auch westlich des Rheins immer wieder, die größte Aktion 1977 auf der Baustelle des Schnellen Brüters Superphénix in Creys-Malville. Aber nie wurde das Land mit "Atomkraft-nein-danke"-Aufklebern zugeklebt. Und ein Atomausstieg wie in Deutschland ist in Frankreich nach wie vor undenkbar. Jedoch ist jetzt mit François Hollande erstmals ein Präsident angetreten, der den Anteil der Kernenergie reduzieren will. Auf einer Konferenz kündigte er im September die "Diversifizierung der Produktions- uns Versorgungsquellen" an. Der Anteil der Kernenergie an der Stromversorgung solle "bis 2025 von 75 Prozent auf 50 Prozent heruntergefahren werden". Das ist nicht weniger ehrgeizig als das deutsche Vorhaben, von rund 25 Prozent auf Null zu kommen.

Erreichen will Hollande das vor allem mit zwei Maßnahmen: "Energieeffizienz zum einen und Vorrang für erneuerbare Energien zum anderen." Rund 30 Prozent der Wohnungen in Frankreich werden elektrisch beheizt, viele sind miserabel isoliert. Jetzt solle jährlich eine Million Wohnungen nach hohen Energiestandards saniert werden, kündigte Hollande an: "Die Wärmesanierung von Wohnraum wird eine der großen Prioritäten meiner Amtszeit sein." Hollande verspricht sich davon auch Arbeitsplätze, ebenso wie vom Ausbau der erneuerbaren Energien. Bei letzterem kam es 2011 zu einem Einbruch, weil Präsident Sarkozy die Förderung massiv gesenkt hatte. Hollande will den Trend wieder umkehren. Flankieren will er die Energiewende durch eine ökologische Steuerreform: "Weniger Steuern auf Arbeit, mehr auf Umweltverschmutzung." Als erste konkrete Maßnahme kündigte Hollande an, das Atomkraftwerk Fessenheim nahe der deutschen Grenze, das älteste des Landes, bis Ende 2016 zu schließen. Dabei gelte es, "die Versorgungssicherheit der Region zu gewährleisten und alle Arbeitsplätze zu erhalten".

Der Teilausstieg aus der Atomenergie wird kein Spaziergang für die französische Regierung. Unmittelbar nach Hollandes Ankündigung kam es in der Region um Fessenheim zu Protesten. Alle großen Gewerkschaften unterschrieben eine Erklärung, die das Aus für Fessenheim verurteilt und ankündigt, man werde sich zur Wehr setzen. Auch hier zeigt sich der nukleare Rheingraben: Östlich von ihm stand schon seit vielen Jahren die IG Bergbau, Chemie, Energie einsam unter den Gewerkschaften für die Kernkraft; inzwischen ist auch sie verstummt. Und während in Deutschland mittlerweile alle Parteien den Atomausstieg mittragen, ist in Frankreich die bürgerliche Opposition klar gegen Hollandes Schwenk. Ein Machtwechsel in knapp fünf Jahren könnte alles wieder ändern.

Der Autor ist freier Journalist.