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Heikle Klippen umschifft

Wachstums-enquete Viele Differenzen zu Bericht

25.03.2013
2023-08-30T12:23:57.7200Z
4 Min

Einem Gewerkschafter fällt so etwas natürlich auf. 158 Seiten zählt der Bericht zu "Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile", den die Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" vergangene Woche verabschiedete. In dem dicken Text finden sich exakt drei Zeilen zum Mindestlohn - mit der Bemerkung, die mit der Erstellung der Expertise beauftragte Projektgruppe 5 habe dieses Problem "intensiv" diskutiert, allerdings "ohne neue Befunde und Erkenntnisse". Das könne doch nicht sein, kritisierte der von der Linksfraktion benannte Sachverständige Norbert Reuter aus der Ver.di-Bundeszentrale, der Mindestlohn sei "doch ein gesellschaftliches Thema ersten Ranges".

Auch Dietmar Hexel vom Bundes-DGB ärgerte sich. Zwar werde einer besseren Mitbestimmung das Wort geredet, doch werde das nicht näher erläutert, monierte der von der SPD delegierte Experte. Zudem setze sich das Papier nicht mit der Misere auseinander, dass viele Beschäftigte von ihrer Arbeit nicht leben könnten: "Warum steht das da nicht?"

Der CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer konterte auf entwaffnende Weise. Arm durch Arbeit, Mindestlohn, Mitbestimmung: Hätte man dazu Näheres beschließen wollen, "dann wären wir in Konflikt geraten, und das hätte uns nicht gut getan", brachte der Vizevorsitzende der Kommission das Dilemma auf den Punkt. Sabine Leidig (Linke), Leiterin der Projektgruppe 5: "Je mehr wir uns der Tagespolitik angenähert haben, desto mehr Konflikte gab es."

Solche Klippen hat man umschifft. So wurde denn der von Leidigs Team entworfene Bericht anders als die Expertisen sonstiger Projektgruppen ohne größeren Streit einhellig gebilligt: Eine Verständigung war möglich in der Problemanalyse und in der Proklamation des allgemeinen Ziels, die Arbeitswelt sowie das Konsumverhalten und die Lebensstile der Bürger stärker nachhaltig auszurichten - viel Konkretes findet sich aber nicht. Erwerbstätigen solle die Ausübung einer "qualitativ hochwertigen Arbeit" ermöglicht werden, verlangte Leidig, Verbraucher müssten die Chance erhalten, einen nachhaltigen Konsum zu praktizieren. Gegen solche Forderungen mochte niemand etwas einwenden.

Unterschiedliche Positionen

Beim Thema Arbeit habe man indes vor allem unterschiedliche Positionen "sichtbar gemacht", so die Linken-Abgeordnete. Zu einigen vermochte man sich auf eine Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Frauen - weswegen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gefördert und die Kinderbetreuung ausgebaut werden sollen. Einverständnis herrscht auch, die Leute durch eine Bildung und Ausbildung fit zu machen für einen Umbau der Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit.

Wie aber soll eine "zukunftsfähige" Arbeitswelt aussehen? Dazu "konnte kein Konsens hergestellt werden", heißt es in einer Bewertung der SPD-Parlamentarier. Das Papier der Kommission belässt es bei der Präsentation von drei unterschiedlichen Modellen als Basis künftiger politischer Diskussionen. Vor dem Hintergrund von Fachkräftemangel, Globalisierung und demographischem Wandel plädiert ein Konzept, das vor allem Union und FDP zuzuordnen ist, für eine Ausdehnung der Erwerbsarbeit, etwa durch eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit, und für mehr Flexibilisierung.

SPD gegen Ausdehnung

Ein von der SPD favorisierter Entwurf zielt auf "Vollbeschäftigung in qualitativ hochwertiger Arbeit", lehnt eine Ausweitung des gesamten Arbeitsvolumens ab und will die Arbeitszeit zwischen Frauen und Männern ausgeglichener verteilen. Linke und Grüne befürworten ein Modell, das soziale Sorgearbeit und bürgerschaftliches Engagement stärker mit Erwerbstätigkeit verknüpft. Konkreter wird die Expertise, wenn es um Konsumverhalten und Lebensstile geht. Autos mit ökologischem Antriebssystem könne man über Sonderfahrspuren bevorzugen. Carsharing-Fahrzeuge sollten bei Parkplätzen privilegiert werden, auch sollten sie verkehrsberuhigte Zonen nutzen können. Plädiert wird für eine Neuregelung der Entfernungspauschale. Aber wie? Offenbar war keine Einigung möglich.

Ein nachhaltiger Konsum müsse in den Lehrplänen an Schulen eine stärkere Rolle spielen, wird verlangt. Eine höhere Glaubwürdigkeit von Siegeln und Zertifikaten könne die Information über Waren verbessern. Ein Dreh- und Angelpunkt der Nachhaltigkeit: Firmen sollen Produkte mit längerer Lebensdauer entwickeln sowie deren Reparatur- und Recyclingmöglichkeiten verbessern. Gefordert wird eine Debatte über eine "Ernährungswende". Nötig sei mehr Aufklärung über den Kauf "saisonaler und fair gehandelter Produkte". Ein "Runder Tisch" soll bis 2025 für eine Halbierung der Lebensmittelverluste sorgen. Brisant mutet die Forderung an, den Fleischkonsum der Bürger zu verringern: Dessen Verteuerung wird zwar nicht offen verlangt, doch ist von einer "entsprechenden Preisgestaltung" die Rede, eine Fußnote erwähnt die Abschaffung der ermäßigten Mehrwertsteuer - und dies, obwohl die Preissteigerung bei Nahrungsmitteln über der Inflationsrate liegt.

Darf der Staat Verbraucher über eine politisch motivierte Verteuerung von Lebensmitteln unter Druck setzen? Leidig räumte ein, dass Lebensstile eine individuelle Angelegenheit seien, doch auf deren Ausprägung nehme der Staat über Rahmenbedingungen Einfluss. Der Bericht will "plurale Lebensstile" respektieren, aber: "Der Staat kann sich nicht aus den individuellen Freiheitsentscheidungen über Lebensstile heraushalten." Aufgelöst wurden diese Widersprüche nicht.