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Keine Ruhe vor dem Sturm

Sommerpause im Bundestag Viele Parlamentarier sind vor dem Wahlkampf noch mit brisanten Themen befasst

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
7 Min

Die gerade renovierte Gründerzeitfassade in Berlin-Neukölln ist nicht lange hübsch geblieben. "Schickies verpisst Euch" steht in grellgelber Neonfarbe auf dem frischen Weiß. Ein Trupp Maler mit schweren Farbeimern und dicken Wandpinseln ist gleich zur Stelle, um das Graffito schleunigst wieder zu übertünchen. Der Bundestagswahlkampf rückt erkennbar näher und Wandsprüche dieser Art sind in Wahlkampfzeiten in Berliner Szenebezirken besonders häufig zu lesen. Zahlreiche Abgeordnete sitzen derweil noch im einige Kilometer entfernten Bundestag und bekommen kaum mit, dass die Sommerpause begonnen hat, denn sie sind weiter in diversen Ausschüssen gefordert bei den großen Themen, die das Land bewegt: das Drohnen-Desaster, die US-Abhöraffäre, der NSU-Ausschuss. In den Fraktionen werden die "Stallwachen" mit Anfragen eingedeckt. Wo ist bloß das Sommerloch?

Heikle Fragen

Im Jakob-Kaiser-Haus beim Reichstag hat sich eine Menschentraube gebildet. Journalisten umringen dicht gedrängt die Abgeordneten aus dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr). Kamerascheinwerfer leuchten grell, bunte Mikrofone an dünnen Stangen ragen zwischen den Köpfen hervor, es wird gerangelt und geschwitzt. Die US-Datenaffäre hält nach den Enthüllungen des US-Geheimdienstexperten Edward Snowden über die Sammelwut amerikanischer Dienste den politischen Betrieb auf Trab. Täglich dringen neue Nachrichten an die Öffentlichkeit und werfen brisante Fragen auf.

Das PKGr zur Kontrolle der Geheimdienste hat gleich mehrere Sitzungen in die Sommerpause verlegt, um Licht ins Dunkel der Spähmethoden zu bringen. Die Opposition wittert eine Chance, die Regierung ist alarmiert. Von höflicher Zurückhaltung ist nichts mehr zu spüren. Es wird kräftig ausgeteilt. Der Ausschussvorsitzende Thomas Oppermann (SPD) verkündet angriffslustig: "Wir wollen endlich mehr wissen über die millionenfache Ausspähung deutscher Staatsbürger." Er hat 110 Fragen an den für die Geheimdienstkoordination zuständigen Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) geschickt - erst am Vorabend, wie der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl bissig bemerkt. "Das ist eine Wahlkampf-Inszenierung, ein Zirkus", erregt sich der CSU-Mann.

Stets aktuell informiert

Der einzige Vertreter der Linksfraktion in dem geheim tagenden Gremium, Steffen Bockhahn, ist zu zwei PKGr-Sitzungen aus dem Menorca-Urlaub eingeflogen und genervt. "Ich wäre weniger unzufrieden, wenn mehr herausgekommen wäre in den Sitzungen." So richtig abschalten kann er aber eh nicht. Seine Leute im Wahlkreis Rostock und in Berlin halten ihn per SMS oder Mail informiert, die Nachrichtenlage verfolgt er ohnehin ständig und kriegt schon mal "Stress", wenn wieder brisante Neuigkeiten aus Geheimdienstkreisen durchsickern. Sein Fazit: "Es ist gerade schwierig, nur im Urlaub zu sein."

Während im Berliner Regierungsviertel noch immer andauernd wichtige Sitzungen anstehen und viele Abgeordnete den Sommerurlaub mehr oder weniger abgeschrieben haben, läuft in den Ländern der Wahlkampf an. Klaus Brähmig (CDU) ist Vorsitzender des Tourismusausschusses im Bundestag und im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge CDU-Direktkandidat für die Bundestagswahl am 22. September. Eigentlich könnte es der 56-Jährige in der Urlaubszeit noch ruhig angehen lassen, aber nun hat ihn das Wahlkampffieber gepackt, als wäre er zum ersten Mal dabei. "Es ist so schön wie am ersten Tag", schwärmt Brähmig, der schon seit 1990 im Bundestag sitzt, vom heimischen Stimmenfang. Die Abhöraffäre um den US-Geheimdienst NSA wird auch unter den Sachsen eifrig debattiert. Brähmig will die Sache aber nicht höher hängen als nötig, zumal den Sachsen die Folgen des Hochwassers im Frühsommer thematisch noch sehr viel näher seien. "Den Leuten hier ist im Moment wichtig, wo sie einen Trockner herkriegen oder Spenden bekommen können", merkt Brähmig an. Seine Wahlkreismitarbeiterin Katrin Gnoss freut sich derweil schon mal über die neuen Hohlkammerplakate, die "leicht und handlich" seien, anders als die schweren Dinger früher. Plakate aufhängen ist anstrengend und will gelernt sein. "Man muss die richtigen Plätze finden", verrät Brähmig, der selbst mit anpacken will.

Im Bundestag ist unterdessen wieder Hochbetrieb. Das Parlament will bis Ende August noch die Euro-Hawk-Affäre aufarbeiten. Das Drohnen-Projekt ist krachend gescheitert und hat über eine halbe Milliarde Euro verschlungen. Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) ist seit Wochen mit Selbstverteidigung befasst. Im Europasaal des Paul-Löbe-Hauses, wo der Ausschuss tagt, steht die Luft. Draußen zeigt das Thermometer 30 Grad an, drinnen in Raum 4.900 fächeln sich die Abgeordneten an den hellbraunen Holztischen im weiten Rund Sauerstoff zu. Prominente Zeugen sind geladen: Der Minister, seine Staatssekretäre, Behördenchefs und Industrievertreter. Mit Fachbegriffen, Zahlen und Abkürzungen wird jongliert, es geht um Musterzulassungen und Testflüge, Verantwortlichkeiten werden erfragt. Mancher Zeuge nestelt angesichts der parlamentarischen Übermacht nervös an Papieren. Die Sitzungen dauern stundenlang, konzentriert wird nachgebohrt, den Teilnehmern ist die Anstrengung anzusehen. Am Ende der siebenstündigen Vernehmung des Ministers kippt die Stimmung. Union und FDP sind entnervt vom Fragenstakkato der Opposition, die sich über vermeintliche Ungereimtheiten empört. Es hagelt gegenseitige Vorwürfe.

Für die FDP-Fraktion sitzt Joachim Spatz in der Runde. Der Mathematiker aus Würzburg will auch "etwas lernen für die künftige Beschaffung". Dass der Familienurlaub erst einmal verschoben ist, findet er nicht so tragisch. Und mit einem "ordentlichen Zeitmanagement" ließen sich die "gehäuften Termine" in Bayern und Berlin ganz gut bewältigen. Was die Wahl angeht, gibt sich der FDP-Mann trotz schwankender Umfragewerte optimistisch: "Wir schaffen das."

Kleistern im Parkhaus

Auf dem Parkdeck einer Hochgarage in Berlin-Kreuzberg ist es dunkel und kühl: Es riecht nach Benzin und Farbe. Ein paar junge Leute mit grünen Schürzen stehen an Tapeziertischen und ziehen Wahlplakate auf Presspappen für den Grünen-Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, der im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sein Direktmandat verteidigen will. Sarah ist 26, hat Politik studiert und macht begeistert mit. "Kleistern macht Spaß und man lernt sich kennen", sagt die junge Frau und zeigt, wie es geht. Später werden aus den "Kleisterteams" die "Hängeteams", wenn die Plakate angebracht werden. Bei den Grünen ist im Wahlkampf alles Handarbeit. "Das passt zu uns", findet Sarah und klatscht den fetten Kleister auf das dünne Poster.

Ströbele hat gerade wenig Zeit. Er ist für die Grünen-Fraktion Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der rechtsextremistischen Terrorserie und zudem im PKGr mit dem US-Abhörskandal befasst. Der 74-Jährige nötigt den jungen Leuten an der Basis Respekt ab. "Was seine Schaffenskraft angeht, ist er ein Jungspund", befindet ein junger Mann aus der Kleistertruppe. Auf die Frage, ob nicht Bundestag und Basisarbeit zwei getrennte Welten sind, winken die jungen Leute ab. Sie würden regelmäßig informiert über das, was im Bundestag eine Rolle spiele. Das Abhörthema etwa findet Sarah "ganz schön krass", die überhöhten Mieten seien für die Berliner aber im Wahlkampf wichtiger.

Prominente Hilfe

Im Berliner Büro des SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy stapeln sich die Papiere zu schwankenden Türmen. Gelassen nimmt der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses die schiere Masse an Arbeit hin. "Ich klage nicht, und Urlaub mache ich nach der Wahl", verkündet er. Der über 1.000 Seiten starke NSU-Abschlussbericht soll am 22. August fertig sein und am 2. September im Plenum beraten werden. Edathy pendelt derweil ständig zwischen Berlin und seinem Wahlkreis Nienburg II - Schaumburg in Niedersachsen hin und her und bewegt sich thematisch zwischen Rechtsterrorismus und Problemen seiner ländlichen Heimatregion.

Im Wahlkreis müsse er sich "sicher bewegen auf Themenfeldern, die nicht zu meinen Schwerpunkten in Berlin zählen". Die regionale Wirtschaft sei so ein Thema, schnelle Internetanschlüsse auf dem Land oder Perspektiven für Bundeswehrstandorte. Zu der "hohen Termindichte" kämen noch 20 bis 30 Bürgeranfragen zu allen möglichen Themen pro Woche. Edathy glaubt nicht, dass die großen Berliner Themen die Wahl entscheiden, eher die Wahlbeteiligung. Daher setzt er auf Mobilisierung und prominente Unterstützung, etwa durch Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD).

Die Parteien bereiten für die Bundestagswahl gerade wieder eine Materialschlacht beachtlichen Ausmaßes vor. Mehr als 60 Millionen Euro werden die sechs im Bundestag vertretenen Parteien in diesem Jahr für das Wahlkampfspektakel ausgeben. Allein die Sozialdemokraten kalkulieren mit einem Budget von rund 23 Millionen Euro. Die CDU setzt im Wahlkampf 20 Millionen Euro ein, die Linkspartei sechs, die Grünen fünfeinhalb und die FDP vier Millionen Euro. Die CSU, die im September auch einen Landtagswahlkampf bestreitet, gibt keine Zahlen heraus. Ein Heer von freien Mitarbeitern wird unterwegs sein, um Plakate aufzuhängen, Millionen Flyer zu verteilen und Infostände zu betreiben. Die CDU geht davon aus, dass mindestens rund 28.000 Helfer für die Partei im Einsatz sein werden. Die Linken wollen mit Originalität punkten und haben 200 rote Lastenfahrräder organisiert, die als mobile Infostände eingesetzt werden. Die Partei mit Schwerpunkt im Osten will rund 5.000 zusätzliche ehrenamtliche Helfer für den Wahlkampf mobilisieren.

Die große Job-Rochade

Mit dem Ende der Legislaturperiode setzt im Parlamentsbetrieb zugleich eine weitreichende Job-Rochade ein. Viele Verträge von Mitarbeitern in den Fraktionen oder Wahlkreisbüros sind auf vier Jahre befristet. Allein rund 100 Abgeordnete treten nicht mehr zu Wahl an, andere werden nicht wieder gewählt. Das bringt Unsicherheiten mit sich. Ein Sprecher der FDP-Fraktion will darin keine Dramatik erkennen. Das Wechselspiel habe schon lange begonnen, manche Mitarbeiter hätten gezielt neue Aufgaben gesucht. Ernsthafte Probleme ergäben sich durch die Legislatur-Rotation eher selten, sagt der Sprecher. "Das ist ein Spiel, auf das sich alle Mitarbeiter einlassen."