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Herzkammern stolzer Demokratien

PARLAMENTE Eine Streifzug durch die Volksvertretungen von Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
6 Min

Die "Mutter aller Parlamente" hat Reformbedarf. So suggerierten es jedenfalls die Programme der drei großen Parteien Großbritanniens vor der Wahl im Mai 2010. Die Konservativen wollten die Parlamentsbezirke fürs Unterhaus verringern und neu zuschneiden, Labour und Liberaldemokraten stellten ein neues Wahlrecht in Aussicht. Und alle drei befürworteten die Umwandlung des Oberhauses in eine teilweise oder sogar ganz vom Volk gewählte Kammer. Drei Jahre später sind fast alle Vorhaben entweder gescheitert oder auf Eis gelegt.

Das liegt vor allem am Streit innerhalb der konservativ-liberalen Koalition unter Premierminister David Cameron. Die Liberaldemokraten unter Vizepremier Nick Clegg setzten zwar fürs Frühjahr 2011 eine Volksabstimmung über das Präferenzwahlrecht durch; das Vorhaben scheiterte aber nicht zuletzt am energischen Widerstand der Konservativen. So bleibt es auch in Zukunft beim Mehrheitswahlrecht, das stets kleinere Parteien benachteiligt. So erreichten die Liberaldemokraten bei der jüngsten Wahl mit landesweit 23,4 Prozent der Stimmen lediglich neun Prozent der Mandate.

Den Tories war vor allem an einer Verkleinerung des Unterhauses von derzeit 650 auf 600 Mandate gelegen. Das hätte die Enge der Kammer verringert, in der sich die Abgeordneten gegenübersitzen - oder notgedrungen am Rande stehen: Auf den berühmten grünen Bänken reicht der Platz lediglich für rund 425 Abgeordnete. Der Neuzuschnitt hätte auch eine gleichmäßigere Verteilung von Wählern pro Wahlbezirk mit sich gebracht und damit die Konservativen begünstigt. Im Durchschnitt sind in Labour-treuen Regionen deutlich weniger Wahlberechtigte gemeldet als anderswo, die größte Oppositionspartei hätte also mehr Sitze eingebüßt. Das bereits eingeleitete Gesetzgebungsverfahren stoppte Clegg als Strafe dafür, dass ihm Teile der konservativen Fraktion bei der gemeinsam geplanten Reform des Oberhauses die Gefolgschaft verweigerten.

Das bisher als beratende Kammer fungierende Haus mit derzeit 755 abstimmungsberechtigten Lords and Ladies, darunter Fachleute wie Star-Architekt Norman Foster und langgediente Politiker wie Alt-Vizepremier John Prescott, sollte deutlich verschlankt und professionalisiert werden. "Wer Gesetze macht, sollte gewählt sein", nannte Clegg als wichtigsten Grundsatz. Der Widerstand gegen die Neuregelung kam aus allen Gruppierungen. Unter den Peers selbst grassierte die berechtigte Angst, sie könnten bei der Reduzierung auf 450 Mitglieder ihren Platz im "schönsten Altenheim des Landes" verlieren, wie ein längst verblichenes Mitglied den Club mit Themseblick einst titulierte. Nach dem Scheitern auch dieser Reform bleibt es nun dabei, dass die meisten Peers von einer Berufungskommission auf Vorschlag der Parteien ausgewählt werden. Einige gehören der auf 800 Jahre Tradition zurückblickenden Kammer qua Amt an, darunter die 25 Bischöfe der anglikanischen Staatskirche von England.

Geblieben vom großen Reformeifer ist lediglich eine einzige Maßnahme, die immerhin dem Parlament gegenüber der Exekutive den Rücken stärkt. Bisher konnte der Premierminister das Unterhaus jederzeit vor Ablauf der Wahlperiode von fünf Jahren auflösen und damit ein politisch günstiges Klima für Neuwahlen ausnutzen. Seit 2011 ist die Fünf-Jahres-Periode gesetzlich fixiert; vorzeitige Neuwahlen können die Abgeordneten wie in Deutschland nur mit Zweidrittel-Mehrheit selbst herbeiführen.

Der Autor ist freier Korrespondent in London.

"L'Etat, c'est moi"

François Mitterrand nennt sie 1964 einen permanenten Staatsstreich: Die Verfassung, die den Vorrang des Staatspräsidenten auf Kosten der Parlamentarier festschreibt und die noch heute das Fundament der Fünften Republik bildet. Wahr ist freilich auch, dass sich dieser vehementeste Kritiker von General de Gaulle bestens mit den ausgedehnten Befugnissen des Staatschefs zu arrangieren verstand, nachdem er selber als erster Sozialist zum Präsidenten gewählt worden war. Dennoch bleiben die Einwände an einem Konzept aktuell, das seine Herkunft der Staatskrise am Ende des Algerienkriegs verdankt. Als Charles de Gaulle 1958 von den ohnmächtigen Politikern der Vierten Republik aus seinem Ruhestand an die Staatsspitze zurückgerufen wurde, verlangte er eine außerordentliche Handlungsfreiheit, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen und die Gefährdung der Demokratie durch Putschversuche der Militärs zu bannen.

Der konstitutionelle Preis, den Frankreich dafür bezahlen musste, war eine deutliche Verlagerung der Macht von der zweiteiligen Legislative der Abgeordnetenkammer und des Senats zugunsten der Exekutive. Seit 1958 und der Verfassung von 1962 hat Frankreich ein Präsidialsystem mit einem (seit 1965) vom Volk gewählten Staatsoberhaupt, das mit Fug und Recht wie einst der Sonnenkönig sagen konnte: "L'Etat, c'est moi" - "Der Staat, das bin ich".

Das mag übertrieben tönen, gerade die Kritik an der von Omnipräsenz gekennzeichneten Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy erinnert aber daran, dass das Problem der Machtkonzentration in den Händen eines Einzigen auf Kosten der Parlamentarier durchaus aktuell bleibt. Als "Egocratie" hatte beispielsweise der Zentrumsdemokrat François Bayrou das Regime seines konservativen Konkurrenten Sarkozy charakterisiert. Bezeichnend für die relative Schwäche der Volksvertretung ist der Verfassungsartikel 49.3, der es der Regierung auf Antrag des Präsidenten erlaubt, Vorlagen im Schnellverfahren und ohne Debatte durchzusetzen. Unzufriedenen Volksvertretern bleibt als Erwiderung nur ein Misstrauensantrag, der kaum Aussichten auf Erfolg hat.

Die Ausnahme von der Regel der schwachen Parlamente war 1986, als die Abgeordnetensitze proportional nach Ergebnissen der Listen verteilt wurden. Die Opposition siegte, in der Folge musste Präsident Mitterrand mit einer bürgerlichen Regierung "kohabitieren". Daraufhin kehrte Frankreich reuig zur Mehrheitswahl zurück. Heute ist das Parlament wieder der gesetzgeberische Arm der Staatsführung und Teil einer weiterhin stark zentralisierten Macht. Denn im Unterschied zu den zweiten Kammern in anderen Ländern kann auch der französische Senat, dessen Existenzberechtigung von der derzeit regierenden Linken lange bestritten worden war, kaum als Gegengewicht der Regionen wirken.

Seit bald fünfzig Jahren wird in Frankreich das Ungleichgewicht der Macht bemängelt. Eine Verfassungsreform von 2008 hat den beiden Parlamentskammern immerhin etwas mehr Kompetenzen zuerkannt. So können die Abgeordneten und die Senatoren nun je die Hälfte der Tagesordnung bestimmen, die vorher exklusiv von der Regierung redigiert worden war. Auch wurde die Verwendung des Dringlichkeitsverfahren und des Ausnahmeartikels 49.3 eingeschränkt. Zudem müssen seither militärische Auslandseinsätze von mehr als sechs Monaten Dauer von den Parlamentariern gebilligt werden.

Der Autor ist freier Korrespondent in Paris.

"Checks und Balances"

Die Herzkammer der amerikanischen Demokratie ist der Kongress. Das oberste Gesetzgebungsorgan der USA tagt seit über 200 Jahren im Kapitol von Washington und besteht aus dem Senat und dem Abgeordnetenhaus. Im Senat sind alle 50 Bundesstaaten unabhängig von Größe und Einwohnerzahl mit jeweils zwei auf sechs Jahre gewählten Mitgliedern vertreten, von den sich ein Drittel alle zwei Jahre nach dem Mehrheitswahlsystem neu den Wählern stellen muss. Der Senat hat in der Außenpolitik und bei wichtigen Personalien Sonder-Befugnisse. Völkerrechtlich bindende Verträge gelten nur dann, wenn zwei Drittel des Oberhauses zustimmen. Ohne den Senat kann der Präsident auch keine hohen Beamten, Offiziere oder Minister ernennen. Im 113. Kongress, der im Januar mit der zweiten Amtseinführung von Präsident Obama die Arbeit aufnahm, stellen die Demokraten 52 Senatoren, die Republikaner 46. Zwei Sitze werden von Parteilosen aus den Bundesstaaten Vermont und Maine gehalten, die meist mit den Demokraten stimmen. Der Senat wird von Vizepräsident Joe Biden geleitet. In Patt-Situationen hat er die entscheidende Stimme.

Im Repräsentantenhaus sind 435 Abgeordnete versammelt, die sich ebenfalls alle zwei Jahre neue Legitimation direkt beim Wähler abholen müssen. Es gibt keine Parteilisten und keinen Fraktionszwang. Die Bundesstaaten sind nach ihrer Bevölkerungszahl unterschiedlich stark vertreten - von einem Mandat (Alaska) bis 53 Mandaten (Kalifornien). Die Republikaner stellen derzeit 234 Abgeordnete, die Demokraten 200; ein Sitz ist vakant. Das Repräsentantenhaus hat das Vorrecht der Finanzpolitik. Alle Haushaltsgesetze müssen hier ihren Anfang nehmen.

Weil nach der Verfassung alle Bundesgesetze der Zustimmung beider Kammern bedürfen, ergibt sich aus den Mehrheitsverhältnissen ein Konflikt, der sich blockierend auf die US-Politik auswirkt. Rot (Republikaner) und Blau (Demokraten) erzielen immer seltener Einigung. Beleg dafür ist die zunehmende Anwendung des "Filibuster" im Senat. Damit ist eine Marathonrede gemeint, mit der eine Minderheit einen Gesetzesentwurf verhindern oder hinauszögern kann.

Die Mittel des Präsidenten, sich gegen den Kongress zur Wehr zu setzen, sind begrenzt. Gegen verabschiedete Gesetze kann er sein Veto einlegen. Über präsidiale Anordnungen ("executive orders") kann er außerdem Verordnungen seiner Vorgänger aufheben oder verändert fortführen. Der Präsident kann den Kongress nicht auflösen. Umgekehrt kann aber das Repräsentantenhaus ein Amtsenthebungsverfahren einleiten, über das der Senat entscheidet.

Die Zustimmung zur Arbeit des Kongresses hat zuletzt in der Bevölkerung historische Tiefstwerte erreicht. "Dysfunktional" ist das am meisten verwendete Attribut. Indiz: Der 112. Kongress, der bis Anfang Januar amtierte, war der unproduktivste seit fast 70 Jahren. Trotz des riesigen Reformstaus, trotz der ungelösten Krise der öffentlichen Finanzen wurden kaum Gesetze verabschiedet. Ob Klimaschutz, Einwanderung, Steuerpolitik, Sozial- und Krankenversicherung - der Kongress ist bei zentralen Themen notorisch uneins. Das von den Verfassungsvätern gewünschte Spiel von "Checks and Balances", die wechselseitige Abhängigkeit von Präsident und Kongress, funktioniert nach einhelliger Meinung von Beobachtern in Washington nicht mehr.

Der Autor ist Washington-Korrespondent der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung".