Piwik Webtracking Image

Immer schneller unterwegs

Parlamentsalltag Abgeordnete früher und heute - Wolfgang Bötsch und Konstantin von Notz berichten

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
5 Min

Das Handy hat Wolfgang Bötsch immer dabei. Gerade ist der 75-Jährige auf einer Kreuzfahrt in Skandinavien unterwegs, für ein Interview aber sucht er sich auf dem Schiff den Platz mit dem besten Empfang. Auch wenn die aktive Zeit in der Politik für den 1960 der CSU beigetretenen Politiker und ehemaligen Postminister vorbei ist: Der Parlamentarismus liegt Bötsch aber nach wie vor am Herzen; für dieses Thema nimmt er sich auch im Urlaub gern ein paar Minuten.

Fast immer erreichbar zu sein, das ist für den Mann, der fast 30 Jahre lang Bundestagsabgeordneter war, eine Selbstverständlichkeit. Dauerpräsent zu sein dagegen nicht. "Ich bin ein alter Mann, ich brauche kein Facebook und kein Twitter." Die sozialen Netzwerke, die viele seiner - meist jüngeren - Kollegen so gern nutzen, betrachtet er mit Skepsis: "Ich habe Zweifel daran, dass es wirklich jemanden interessiert, was ich gerade gefrühstückt habe oder wo ich hingehe. Da wird doch vieles gepostet, das an einen ausgeprägten Exhibitionismus verbaler Art grenzt."

Diese Einschätzung hält Konstantin von Notz für viel zu kurz gegriffen. Seit vier Jahren sitzt der Möllner Jurist im Deutschen Bundestag, ist netzpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion - und aktiver Nutzer von Facebook und Co. "Für mich ist das eine ergänzende Form der Kommunikation mit den Bürgern und überhaupt keine Einbahnstraße: Die Rückmeldungen, die ich in den Gesprächen und Diskussionen in den sozialen Netzwerken bekomme, zeigen mir, was den Leuten auf den Nägeln brennt", sagt Notz. Früher hätten die sich erst einen Termin im Wahlkreisbüro geben lassen oder Politiker auf dem Marktplatz abpassen müssen - heute könnten sie zu jeder Zeit und fast von jedem Ort in Kontakt zu ihrem Bundestagsabgeordneten treten.

Die Vielfalt ist größer

Das Schnelle, Unmittelbare - das ist es, was heutige Politik auszeichnet. Jede Entscheidung wird sofort gesendet, muss kommentiert und bewertet werden. "Früher standen vor der Tür, aus der man nach der Fraktionssitzung kam, vielleicht drei Kameras", erinnert sich Wolfgang Bötsch, "die waren von ARD, ZDF und einem dritten Programm. Dann kamen die Liberalisierung der öffentlichen Medien und eine Art des Wettbewerbs, die Schnelligkeit zu Ungunsten von Genauigkeit brachten. Ich bin sicher, dass es heute viel mehr Fehlmeldungen gibt als damals."

Diese Gefahr sieht auch Grünen-Politiker von Notz. "Natürlich hat das Internet unsere politischen Diskussionen und die Entscheidungsprozesse verändert. Der Druck, sofort zu reagieren und eine Position zu entwickeln, ist immens.

Bei allen Risiken hat das aber auch einen großen Vorteil: Es ist heute nicht mehr so leicht möglich wie früher, die Dinge auszubremsen oder unter den Teppich zu kehren." Weil die technischen Möglichkeiten sich für alle gleichermaßen verändert hätten, würden Informationen nicht nur schneller transportiert, sondern seien auch viel leichter zugänglich. "Mein Mitarbeiter muss heute nicht vier Stunden in die Bibliothek verschwinden, um für mich ein Papier zu schreiben. Das kann der vom PC aus und hat dort eine viel größere Vielfalt an Quellen - Archive, Websites oder eben soziale Medien." Das Bild, das sich aus dieser Art der Informationsbeschaffung ergebe, sei häufig vielfältiger und umfassender als das aus dem reinen Bücherstudium.

Politik ist komplexer

Dass es heute wichtiger als vor dreißig Jahren sei, politische Fragen komplex zu diskutieren, davon ist auch Wolfgang Bötsch überzeugt. Früher, so sagt er, sei die Welt einfacher gewesen. "In den 70er-Jahren wussten wir: Wer für die CSU ist, der ist für die Freiheit - die Sozis dagegen wollten mit den DDR-Vertretern sprechen. Die Zuordnung war leicht. Aber heute? Erklären Sie mal jemandem die Gesundheitsreform. Und wer weiß schon, was im Irak richtig ist? 1979 waren die Russen die Bösen, als sie in Afghanistan einmarschierten. Zu entscheiden, wer heute die Guten in Afghanistan sind, ist viel komplexer."

Das hat auch Konstantin von Notz erfahren - wenn auch auf einer ganz anderen Ebene. Er ist davon überzeugt, dass die Schwarz-Weiß-Wahrnehmung von Regierung und Opposition inzwischen überholt ist. "Ich war nach der Wahl 2009 positiv überrascht, wie viel Einfluss ich auch als Oppositionspolitiker auf die politischen Prozesse und Entscheidungen habe - damit hatte ich nicht gerechnet."

Bürger sind misstrauisch

Bewusst gewesen sei ihm allerdings das tiefe Misstrauen und die große Unzufriedenheit vieler Bürger mit der Politik. "Da gibt es eine Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus, die ich für unangebracht halte. Unser politisches System funktioniert bei allen vorhandenen Mängeln insgesamt gut." Man müsse viel stärker öffentlich kommunizieren, "dass Konsensfindung Teil unseres politischen Prozesses ist und nicht per se Verrat oder ein Bruch von Wahlversprechen". Wo von Notz für Politik und die Arbeit der Politiker werben will, ist Wolfgang Bötsch desillusioniert. Als er seine Kinder vor einigen Jahren fragte, ob sie nicht auch in die Politik gehen wollten, sagten sie ihm: Sie seien an politischen Dingen zwar interessiert, würden aber gern gutes Geld verdienen wollen, ohne sich dafür dreimal am Tag beschimpfen lassen zu müssen. "Und ich kann das gut verstehen. Als Politiker steht man heute unter Dauerbeobachtung, permanent versuchen andere, einem jeden noch so kleinen Fehler nachzuweisen." Das habe dazu geführt, dass "die Qualität des Parlaments nicht besser geworden" sei. Wer damit rechnen müsse, ununterbrochen durch die Medien beschimpft und als Raffke bezeichnet zu werden, gleichzeitig aber wisse, dass jeder Chefredakteur einer Lokalzeitung besser bezahlt werde, für den sei dieser Job häufig nicht mehr attraktiv. Für Bötsch eine verhängnisvolle Entwicklung: "Wir müssen aufpassen, dass im Parlament keine Diktatur der Mittelmäßigkeit einzieht."

Die vermag Konstantin von Notz nicht zu erkennen - und widerspricht seinem Politikerkollegen vehement: "Mein Eindruck ist der, dass hier sehr gute und kompetente Kollegen unterwegs sind. Für wen es ausschlaggebend ist, dass er in einer Kanzlei 80.000 Euro mehr verdient, der sollte dorthin gehen. Wem es primär ums Geld geht, der hat im Bundestag nicht so viel verloren."