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Weder Drama noch Petitesse

ESSAY Nichtwähler in Deutschland sind keine homogene Masse. Nur eine Minderzahl von ihnen ist regelrecht politikverdrossen

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
6 Min

Nichtwähler entscheiden in wachsendem Maß über den Ausgang von Wahlen. Und Kampagnen wie der Bundestagswahlkampf 2013 sind heute eher ein Ringen um die Mobilisierung denn eine klare inhaltliche Auseinandersetzung. Anders als in den politisch bewegteren Jahren der Republik - Höhepunkt war die "Willy-Wahl" 1972 mit der Rekord-Wahlbeteiligung von 91,4 Prozent - streben längst nicht mehr alle Wahlkämpfer nach "klarer Kante" und einem Maximum an demokratischer Mobilisierung: "Asymmetrische Demobilisierung" nennt sich das Bemühen, lieber durch inhaltliche Austauschbarkeit mögliche Wähler des politischen Gegners zu chloroformieren als über die profilierte Ansprache eigenen Potenzials Politik lebendiger werden zu lassen. Die Bürger aber wählen lieber zwischen schwarz und weiß als zwischen dunkelgrau und hellgrau. Polarisierung fördert Wahlbeteiligung, findet aber kaum noch statt. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass manche große Schlacht geschlagen ist und es heute im komplexen Politikbetrieb eines durchgeregelten und einzelfallgerecht administrierten Landes scheinbar nur mehr um das Drehen kleiner Schräubchen geht.

Nachlassende Bürgerpflicht

Weil also das Wahljahr 2013 ähnlich müde plätschert wie 2009, könnte es ein neues Rekordtief der Beteiligung geben: Nach den 70,8 Prozent vor vier Jahren nun annähernd nur noch zwei Drittel der Wahlberechtigten. Das läge auch im langfristigen Trend: Seit Mitte der 1980er Jahre sinken in Deutschland relativ kontinuierlich die Beteiligungswerte bei Bundestags- und noch mehr bei Landtags-, Kommunal- und Europawahlen. Dies ist zu einem großen Teil zwei strukturellen Entwicklungen geschuldet, die sich fortsetzen dürften. Zum einen wird die Wahlteilnahme besonders von jüngeren Menschen immer weniger als Bürgerpflicht verstanden. Zu diesem nachlassenden "staatsbürgerlichen Pflichtbewusstsein" kommt, zweitens, die Abnahme gesellschaftlicher Bindungen. Partizipation hängt an Integration, noch mehr als am politischen Interesse: Je eingebundener ein Bürger ist, desto eher geht er zur Wahl.

Insoweit sind wachsende Nichtwählerzahlen stärker als Normalisierungsprozess denn als Krisenzeichen zu werten: Beispielsweise kann "die" Politik sicher wenig dafür, dass aufgrund der Individualisierung und des Wertewandels die "Mobilisierungsmotoren" Familie, Kirche, Gewerkschaft oder Verein immer weniger Menschen ansprechen und zum Wahlgang ermuntern. Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben nicht viel gegen "die" Politik, beschäftigen sich aber auch nicht Tag und Nacht mit ihr. Je mehr Kontakt sie zu anderen Menschen haben, desto größer die Chance, auf Politik angesprochen, an die Wahl erinnert oder gar von der Familie zum Wahllokal im Wortsinn mitgenommen zu werden. Der allein lebende Großstadtsingle neigt weitaus mehr zur Wahlenthaltung als der in vielerlei Gemeinschaften eingebundene Kleinstadtbewohner. Aktuelle Untersuchungen von Forsa im Auftrag von ProSieben/SAT.1, der Bertelsmann- und der Konrad-Adenauer-Stiftung haben die Gültigkeit dieses Befunds unterstrichen.

Genauso bestätigen die neuen Studien, dass Nichtwähler alles andere als eine homogene Masse oder gar "Partei" sind - und, dass es eben auch bewusste, politische Wahlenthaltung gibt. Als Warnung oder auch Krisenindikator ernst zu nehmen ist also der kleinere Teil der Wahlenthaltung, der von Politik- und Parteienverdruss kündet und, vor allem, in einem nächsten Schritt zur Wahl von Protestparteien führen könnte. "Wählende" Nichtwähler sind zum Beispiel mit einem von ihnen wahrgenommenen inhaltlichen Parteien-Einheitsbrei oder im Einzelfall mit dem Personal oder konkreten Programm "ihrer" Partei unzufrieden. Oder sie wollen irgendwie protestieren, gegen Skandale oder angeblich abgehobene Politiker und/oder sind der Mühsal demokratischer Entscheidungsfindung und politischer Kompromisse müde. "Politikverdrossenheit", ein Totschlagswort mit wenig Substanz, geht jedenfalls in Deutschland regelmäßig um. Trotz aller Kritik aber an "der" Politik ist Systemprotest nach dem alten APO-Motto von 1969, "Schweine regieren, Esel wählen", praktisch nicht feststellbar -abnehmende Zustimmungswerte zu unseren demokratischen Institutionen und unserer Wirtschaftsordnung indes sehr wohl. Die Fundamente der deutschen Demokratie weisen Risse auf.

Umso mehr sollte man sich davor hüten, "Politikverdrossenheit" anzuheizen und Nichtwähler zu Vorbildern zu erklären. Leider ist es in Büchern von Meinungsmachern oder in Essays Mode geworden, neben den ganz einfachen Lösungen demokratische Abstinenz als Heldentat weitsichtiger "Durchblicker" zu verkaufen. Eigentlich ist sie eher ein Armutszeugnis im Sinne Platons: "Diejenigen, die sich für zu klug halten, um sich in der Politik zu engagieren, werden dadurch bestraft werden, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selbst." Wer Veränderungen will, muss sich beteiligen und artikulieren - andernfalls wird sein Schweigen de facto zur Bejahung des Status quo.

Überschätzung

Ohnehin ist nicht jeder Akt von bewusster Abstinenz als Mahnung an die "eigene" Partei oder als flammender Protest und Produkt wachsamer Intelligenz eines um die Demokratie besorgten Staatsbürgers zu sehen. Weil es vielmehr einen besseren Eindruck macht, wenn man sich als solcher ausgibt, äußert auch so mancher, der es schlicht aus Bequemlichkeit nicht zum Wahllokal geschafft hat, in Umfragen angeblichen Verdruss: "Rationalisierung" nennt die Wahlforschung dieses Phänomen, das zur Überschätzung der "Politikverdrossenheit" stark beiträgt.

Wahlenthaltung bzw. die Höhe der Wahlbeteiligung sollte also weder idealisiert noch dramatisiert werden. Sie sagt ohnehin kaum etwas über das Funktionieren einer Demokratie aus. Noch keine, siehe die Beispiele Schweiz und USA, ist an zu niedriger Beteiligung gescheitert. Einen Beleg dafür, dass die Stimmabgabe kein Wert an sich sein muss, stellte so manche Landtagswahl der letzten zwanzig Jahre dar: Das Ausscheiden der Republikaner in Baden-Württemberg 2001 oder der Schill-Partei in Hamburg 2004 ähnlich wie das der DVU in Sachsen-Anhalt 2002 ging jeweils mit stark zurückgehender Wahlbeteiligung einher. Womöglich ist es also in manchen Fällen aus Sicht der "etablierten" Parteien durchaus hilfreich, wenn der eine oder andere zuhause bleibt? Anders ausgedrückt: Die ab und an diskutierte Wahlpflicht könnte vor allem ein Förderprogramm für Protestparteien sein.

Manche Warnzeichen sind nicht zu ignorieren und Aufklärung über Politik, ihre Grenzen und Mechanismen tut immer not. Die deutsche Demokratie ist aber gefestigt genug, mehr Nichtwähler zu verkraften. Die Beteiligungswerte sind immer noch höher als in vielen vergleichbaren westlichen Ländern. Insoweit erscheint Wahlenthaltung derzeit weniger als Demokratiekrise denn als Politikum mit zwei besonderen Auswirkungen.

Die erste wird in der Wahlforschung als "systematischer Oppositionseffekt" bezeichnet: Wer im Bund in der Regierungsverantwortung steht, macht fast zwangsläufig Fehler, enttäuscht Erwartungen, muss Kompromisse suchen. Die grundsätzliche Folge: Die größte der die Bundesregierung tragenden Parteien kann bei Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen ihre möglichen Wähler weniger gut motivieren als die Opposition im Bund, die von der dann geringeren Wahlbeteiligung mit prozentualen Gewinnen profitiert - ohne dabei zwangsläufig die eigenen Stimmen zu mehren.

Bis 1969 waren es eher bürgerliche Wähler, die regionale und kommunale, als weniger wichtig empfundene Wahlen zum Protest nutzten, während nach dem Bonner Machtwechsel die Union ihrerseits in den 70er Jahren fast überall hinzugewann, wo die Beteiligung gegenüber der Vorwahl absank. Von 1982 bis 1998 wiederum erwiesen sich Landtags- und Kommunalwahlen als Ventil für Unzufriedene aus dem regierenden bürgerlichen Lager. Mit der bekannten Folge, dass die Opposition im Bundestag über den Bundesrat mitregieren und in den Ländern personelle Alternativen entwickeln konnte. Zwischen 1998 und 2005 fand dies einmal mehr unter umgekehrten Vorzeichen statt, seitdem, insbesondere seit 2009, sank bei fast allen Landtagswahlen die Beteiligung und verlor die Union. Diejenigen, die diesen Effekt verursachen, können also - in den meisten Fällen wohl eher ungewollt - politische Weisheit an den Tag legen. Nichtwähler leisten einen Beitrag zur Balance im politischen System, ihre Enthaltung entfaltet eine ausgleichende Wirkung, die Umfragen zufolge von der großen Mehrheit der Bevölkerung auch gewünscht wird.

Die Dominanz der Senioren

Mehr Brisanz in der Zukunft entwickelt dagegen die zweite Folge der Wahlenthaltung. Dabei geht es um den nicht neuen, vielfach bestätigten Zusammenhang, dass die Neigung zur Wahlbeteiligung fast linear mit zunehmendem Alter steigt: Besonders wahlfaul sind hierzulande die Twens, besonders engagiert die 60- bis 70-Jährigen. In Verbindung mit der bekannten demographischen Entwicklung bzw. Alterung der Bevölkerung heißt das: Die Bundestagswahl 2013 dürfte auf Dekaden hinaus die letzte sein, bei der die Mehrheit der Wähler (nicht der Wahlberechtigten!) unter 55 ist. Noch mehr als schon in den letzten Jahren und ab 2017 mit Mehrheit der Wähler sind bei Wahlen diejenigen entscheidend, die insgesamt eher auf Status Quo und Sicherheit, weniger auf Innovation und Dynamik setzen. Das könnte die schon zu beobachtende Veränderungsaversion in der Bevölkerung zu einer strukturellen Reformblockade gerinnen lassen. Und wenn es in zukünftigen Kampagnen nur noch um Renten geht, wird es zudem teuer. Trotzdem: Wenn Jüngere sich in stärkerem Maß nicht ausdrücken, sollten sie sich später nicht beklagen. In Deutschland sind Wahlen laut Grundgesetz gleich, unmittelbar, geheim und frei. Letzteres schließt auch das Recht ein, nicht zu wählen. Wenn Bürger dieses Recht wahrnehmen, sollte man deswegen auch die Demokratie nicht gleich am Abgrund sehen. Deutschland wird sich an weiter sinkenden Wahleifer so oder so gewöhnen müssen.