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Unterschätzte Kammer

EUROPAPARLAMENT Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten könnten das Profil der EU-Volksvertretung schärfen

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
5 Min

Diesmal soll alles anders werden. Gewählt wird im Mai und nicht im Juni, wenn die Menschen wegen des womöglich sommerlichen Wetters nicht den Weg in die Wahlkabine finden. Und die Parteien treten in ganz Europa mit einheitlichen Spitzenkandidaten auf. Der Europawahlkampf 2014 soll eine echte Premiere werden.

Es darf allerdings bezweifelt werden, dass die Kampagne die Wahrnehmung des Europäischen Parlaments grundlegend verändern wird. Die Bürger pflegen ein sehr paradoxes Verhältnis zum Europäischen Parlament. Einerseits ist es die bekannteste europäische Institution, wie Umfragen des Eurobarometers ergeben. 95 Prozent der Deutschen geben an, schon einmal davon gehört zu haben. Und das Vertrauen in das Europäische Parlament liegt der Umfrage zufolge nur um einen Prozentpunkt niedriger als beim Bundestag. Und doch verzichten viele Wahlberechtigte in Deutschland darauf, alle fünf Jahre ihre Stimme abzugeben. Zuletzt, im Jahr 2009, lag die Wahlbeteiligung bei 43,3 Prozent. 1979, bei der ersten Direktwahl, hatte sie noch 65,7 Prozent erreicht.

Und dies, obwohl die Macht des Europäischen Parlaments stetig zugenommen hat. Zuletzt kamen 2009 durch den Vertrag von Lissabon rund 40 Kompetenzen hinzu. Die aktuell 766 Europaabgeordneten entscheiden mittlerweile auch bei Themen wie Landwirtschaft und Handel gleichberechtigt mit den EU-Mitgliedsstaaten über die Gesetzesvorlagen der EU-Kommission. "Das Europäische Parlament ist einflussreicher denn je", stellt die Nicht-Regierungsorganisation VoteWatch Europe fest. An rund 90 Prozent der europäischen Gesetzgebung waren die Abgeordneten im sogenannten Mitentscheidungsverfahren seit 2009 beteiligt, errechneten die Experten.

Für die Bürger ist das Europäische Parlament allerdings geographisch weit weg und wegen der Pendelei zwischen Straßburg und Brüssel obendrein schwer zu verstehen. Zwölf Mal im Jahr müssen die Abgeordneten ihre Plenartagungen am offiziellen Sitz in Straßburg abhalten, so sehen es die EU-Verträge vor. Die meiste Zeit verbringen die Abgeordneten allerdings in Brüssel, neben Luxemburg ein weiterer Arbeitsort des EP. An der Vielzahl der Arbeitsorte, die jährlich Millionen Euro an Transportkosten nach sich ziehen, stören sich auch die Parlamentarier selbst. Doch sie entscheiden darüber nicht. Alleine die Mitgliedsstaaten könnten den Wanderzirkus beenden, Frankreich und Luxemburg sind bisher strikt dagegen.

24 Amtssprachen

Im Plenarsaal, beeindruckend durch seine schiere Größe, herrscht ein Sprachengewirr. Jeder Abgeordnete darf sich in seiner Muttersprache zu Wort melden, 24 Amtssprachen werden gedolmetscht. Die eigentliche Arbeit findet in den 20 ständigen Ausschüssen (einer von ihnen mit zwei Unterausschüssen) statt, zu denen aktuell ein vorübergehender Ausschuss zum Problem der organisierten Kriminalität hinzukommt.

Anders als im Bundestag herrscht im Europaparlament kein Fraktionszwang. Über die Jahre gesehen stimmen die sieben Fraktionen aber einheitlicher ab, ergab eine Untersuchung von Votewatch, wobei die Grünen die größte Kohärenz aufweisen. Es kommt auch vor, dass deutsche Abgeordnete in Brüssel eine andere Position vertreten als die jeweiligen Parteien im Bundestag. So haben sich etwa Liberale in Brüssel für Eurobonds ausgesprochen. Und die CDU-Abgeordneten befürworteten die neuen Auflagen für den CO2-Ausstoss, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nachträglich wieder aufschnürte.

Gestaltungsspielräume

Weil Europa-Abgeordnete keiner Fraktionsdisziplin unterliegen, sehen sie für sich häufig einen größeren Gestaltungsspielraum als im Bundestag. Wechsel nach Berlin sind eher die Ausnahme. Vor allem den Berichterstattern kommt im EU-Gesetzgebungsprozess eine zentrale Rolle zu. Eigens benannte Abgeordnete bearbeiten die Vorschläge der Kommission federführend, die anderen Fraktionen ernennen Schattenberichterstatter, die das Dossier ebenfalls im Detail verfolgen. Abgeordnete können Änderungsanträge stellen, über die sie im Ausschuss abstimmen. Bei großen Vorhaben wie etwa der Bankenaufsicht kommen schnell mehr als 1.000 Änderungsanträge zusammen. Der Berichterstatter muss den Überblick behalten und die Debatte strukturieren.

Anders als der Bundestag verfügt das Europäische Parlament über keinen eigenen wissenschaftlichen Dienst, was viele Abgeordnete bedauern. Kritiker befürchten, dass dieser Mangel Lobbyisten die Arbeit erleichtert, weil ihre Standpunkte nicht mit neutraler Information abgeglichen werden können.

Im Gegensatz zum Bundestag wählt das Europäische Parlament keine Regierung. Die Mitglieder der EU-Kommission werden von den nationalen Regierungen bestellt - müssen allerdings vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Die dreistündigen öffentlichen Anhörungen, die jeder Kommissarsanwärter absolvieren muss, sind eine ernstzunehmende Angelegenheit. In der Vergangenheit haben die Parlamentarier mehrfach Regierungen gezwungen, geeignetere Kandidaten nach Brüssel zu schicken.

Weil die Kommission nicht vom Parlament gewählt ist, finden ihre Vorschläge keine automatische Mehrheit unter den Abgeordneten. Diese muss bei jedem Thema neu zusammenkommen. Weil dem Europäischen Parlament Regierung und Opposition fehlt, kommt es im Plenum nur selten zu so angeregten Debatten wie im Bundestag.

Mehr Aufmerksamkeit für die Europawahlen versprechen sich die EU-Abgeordneten auch durch die Nominierung von Kandidaten für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission. "Deutlich vor den Wahlen" sollen die europäischen Parteien ihre Kandidaten der Öffentlichkeit vorstellen, forderte der Ausschuss für konstitutionelle Fragen im Mai. "Künftig wird der Präsident der Kommission nicht länger hinter verschlossenen Türen von den Staats- und Regierungschefs ausgehandelt werden", sagt Manfred Weber (CSU), Vizefraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP). "Stattdessen werden die Bürger mit ihrer Stimme entscheiden, wer der mächtigste Mann auf EU-Ebene sein wird."

Doch ob es dazu kommen wird, ist ungewiss. "Es ist bei weitem nicht sicher, dass die Parteien und der Europäische Rat am Schluss dieses Spiel mitspielen", urteilt Charles Grant, Direktor des britischen Thinktanks Centre für European Reform.

Hinter vorgehaltener Hand bezweifeln in Brüssel selbst Kommissare, dass die Regierungen die Entscheidung abgeben werden.

Der Streit um die Personalie illustriert ein Grundproblem der Kammer: Seit Beginn der Euro-Krise reißen die Mitgliedsstaaten die Macht im Krisenmanagement an sich. Auch wenn das Parlament an Einfluss hinzugewonnen hat, muss es weiter kämpfen, um in Europa die Rolle zu spielen, die es anstrebt.

Bei der nächsten Wahl wird es - zumindest aus deutscher Sicht - eine weitere Neuerung geben: Kleinere Parteien können sich größere Chancen auf einen Einzug ins Europaparlament auszählen. Im Juni dieses Jahres hatte der Bundestag den Weg für die geplante Änderung des Europawahlgesetzes frei gemacht. Damit wird die Fünf-Prozent-Klausel im Europawahlgesetz gestrichen und eine Drei-Prozent-Klausel eingeführt. Das Bundesverfassungsgericht hatte im November 2011 festgestellt, dass die Fünf-Prozent-Klausel bei der Europawahl nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Die Autorin ist Brüssel-Korrespondentin des Magazins "Wirtschaftswoche".