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"Sucher im Akten-Dickicht"

BERND VON HEINTSCHEL-HEINEGG Der Jurist über seine Arbeit als Sonderermittler des NSU-Untersuchungsausschusses

09.09.2013
2023-08-30T12:24:04.7200Z
5 Min

Als Ermittlungsbeauftragter des Untersuchungsausschusses zur "Terrorgruppe nationalsozialistischer Untergrund" haben Sie mehr als 3.600 Aktenordner gesichtet, Sie waren beim Generalbundesanwalt, beim Bundeskriminalamt, beim Bundesamt und bei Landesämtern für Verfassungsschutz und bei der Polizei an Tatorten der Mordserie. Sind Sie zum "Aktenfresser" geworden?

In gewisser Weise schon. Arbeitet man sich nicht zügig durch solche Unterlagenberge durch, lässt sich die Aufgabe nicht bewältigen. Es ist nicht einfach, zu einem strukturierten Vorgehen zu finden, um Wichtiges vom Unwichtigen zu trennen. Schließlich beeinflussen die Informationen in den Akten, die den Abgeordneten zur Verfügung stehen, deren Arbeit samt Auswahl und Befragung der Zeugen. Ich habe mich als Fährtensucher im Dokumentendickicht verstanden.

Wie viele Unterlagen haben Sie nach Berlin geschickt?

Genau Buch geführt habe ich nicht. Es war wohl ein Sechstel der Aktenordner.

Die Parlamentarier haben zahlreiche Dokumente nicht zu Gesicht bekommen. Was wissen Sie denn Interessantes, was das Gremium nicht erfahren hat?

Da muss ich passen. Alles, was wichtig war für die Abgeordneten, ging nach Berlin. Ich wäre todunglücklich, wenn ich irgendetwas versehentlich nicht übermittelt hätte, was für die Ausschussarbeit bedeutsam war. Nicht benötigt hat das Gremium zum Beispiel Obduktionsberichte über die Opfer. Auch mehrere hundert Ordner zur Wattestäbchen-Affäre wurden rasch beiseite geschoben. Im Fall der Heilbronner Polizistin wurde eine Phantomfrau gejagt, die für diesen Mord und andere Delikte verantwortlich gewesen sein sollte. Letztlich kam heraus, dass fehlerhaft behandelte Wattestäbchen bei den Ermittlungen an den Tatorten stets die gleiche DNA-Spur hinterlassen hatten.

Haben Sie oft mit sich gerungen, ob Sie etwas nach Berlin schicken oder nicht?

Nein, das war nie ein Problem. Es galt eine einfache Maxime: Lieber gebe ich dem Ausschuss eine Akte zu viel als zu wenig.

Nach welchen Kriterien haben Sie entschieden, was nach Berlin geht?

Die Maßstäbe ergaben sich aus dem Ermittlungsauftrag der Abgeordneten. Wichtig waren etwa Informationen über Auswahl, Kontrolle und Finanzierung von V-Leuten, über die Kooperation zwischen den Behörden oder über den Umgang mit Erkenntnissen, die bei den Ermittlungen zu der Mordserie gewonnen worden waren. Unterrichtet wurde, nicht immer zur Freude der Polizei, das Bundestagsgremium etwa über Dokumente zu polizeitaktischen Maßnahmen und zur Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz. Ein anderes Beispiel: In den Unterlagen für die Parlamentarier steht zu den Nürnberger Morden viel über umfängliche Ermittlungen in Richtung Rechtsextremismus, die aber bedauerlicherweise lokal zu eng begrenzt waren. Auch alle Hinweise zu Verbindungen des NSU ins Ausland landeten in Berlin.

Haben Sie mit Generalbundesanwalt Harald Range häufiger gestritten, ob er Akten für den Ausschuss freigibt?

Nein, der Generalbundesanwalt hielt nichts zurück, sondern zeigte sich äußerst kooperativ. Auch andernorts stieß ich nie auf Widerstand, im Gegenteil. Alle Behörden unterstützen meine Arbeit. Selbst beim Verfassungsschutz akzeptierte man schließlich, dass da einer von außen ins Amt kommt, der alles einsehen darf, was nicht einmal den meisten Geheimdienstlern möglich ist, das war ein Novum.

Was hat Sie am meisten geschockt beim Blick in die Dokumente?

Da ich als Staatsanwalt und Richter früher mit Staatsschutzdelikten befasst war, bin ich einiges gewohnt. Gleichwohl fand ich das Paulchen-Panther-Video besonders schlimm, in dem der NSU die Morde auf widerliche Weise kommentiert. Ich habe mich auch gefragt, wie man zu solchen Taten fähig sein kann. Meine Mitarbeiter und ich haben häufig darüber diskutiert, mit welcher Kaltschnäuzigkeit und Professionalität der NSU nach dem Abtauchen vorging, obwohl die Zelle bis dahin recht offen agiert hatte. Dem Trio gelang es immerhin, nach dem Untertauchen Anfang 1998 über ein Jahrzehnt keine Fehler zu machen, die zur Enttarnung führten.

Sie haben sicher häufiger den Kopf geschüttelt, wenn Sie auf Ermittlungspannen bei Polizei und Geheimdiensten stießen.

Man sollte nicht vorschnell urteilen. Die Polizei war intensiv um Aufklärung bemüht. Wenn in Unterlagen Pannen und Fehlgriffe sichtbar wurden, habe ich mich gefragt, was ich in solchen Situationen getan hätte. Aber es lief in der Tat einiges schief. So zeigen Akten immer wieder, dass der Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei lückenhaft war. Vor allem ist vermasselt worden, die 1998 bei einer Garagendurchsuchung aufgetauchte Liste mit rechtsextremen Kontaktadressen für die Fahndung zu nutzen. Wäre man da professionell vorgegangen, hätte man das Trio wohl frühzeitig finden können. Im Fall der Heilbronner Polizistin verwundert mich ein zentraler Widerspruch: Die Polizei vermutet neben Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos noch andere Täter, während der Staatsanwalt dies bestreitet. Die Unterlagen offenbaren noch andere bislang ungeklärte Fragen.

Sie haben auch Skurriles entdeckt. In Nürnberg betrieb die Polizei getarnt eine Dönerbude, um Täter im kriminellen Milieu aufzuspüren. In Köln kontaktierte die Polizei einen Hellseher, in Hamburg einen "Metaphysiker".

In den Medien hat man sich über diese Dinge amüsiert. Ich mache hingegen der Polizei keine Vorwürfe. Man kann es auch so sehen: Es wurde selbst "Abwegiges" probiert, um die Mordserie aufzuklären.

Wie wichtig ist ein Ermittlungsbeauftragter für einen Untersuchungsausschuss? Das ist ein sehr sinnvolles Instrument, wenn ein Gremium Tausende von Akten heranziehen muss. Da ist eine Vorauswahl, ein erster Filter durchaus hilfreich.

Sie waren ein Mann im Hintergrund. Hat es Sie bei den Pressekonferenzen während der Ausschusssitzungen gedrängt, öffentlich Stellung zu nehmen?

Ans Mikrofon hat es mich nie gezogen. Ein Ermittlungsbeauftragter hat keine politischen Bewertungen abzugeben. Es war auch nie so, dass ich gern in Zeugenanhörungen eingegriffen hätte. In nichtöffentlichen Sitzungen des Ausschusses habe ich indes mitdiskutiert, wenn es etwa um das weitere Vorgehen, um Beweisanträge und um Fragenlisten für Zeugen ging.

Was prädestiniert einen Anwalt für Familien- und Strafrecht für die Aufgabe eines Ermittlungsbeauftragten beim Thema Rechtsterrorismus?

Vor meiner Tätigkeit als Anwalt war ich Staatsanwalt und Richter, unter anderem stand ich mehrere Jahre an der Spitze des Staatsschutzsenats beim Bayerischen Obersten Landesgericht. Befasst war ich auch mit dem von Martin Wiese geplanten Attentat anlässlich der Grundsteinlegung für das jüdische Gemeindezentrum in München. Man hat sich im Ausschuss wohl gesagt, dass ich in Sachen Rechtsterrorismus über berufliche Erfahrungen verfüge.

Würden Sie im nächsten Bundestag wieder als Ermittlungsbeauftragter zur Verfügung stehen?

Gewiss doch. Das Durcharbeiten von Unterlagen mutet auf den ersten Blick langweilig an. Aber beim Aktenstudium taucht man in ein Stück Zeitgeschichte ein. Wo kann man so etwas sonst erleben? Das ist eine spannende Sache.

Das Interview führte Karl-Otto Sattler.

Bernd von Heintschel-Heinegg ist Rechtsanwalt und Honorarprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Regensburg. Zuvor war er Vorsitzender Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht und am Oberlandesgericht in München.