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"Abgeordneter zu sein ist größte Verantwortung"

VON FRANZ MÜNTEFERING (SPD)

16.09.2013
2023-08-30T12:24:05.7200Z
3 Min

Im Alter von 73 Jahren verlässt Franz Müntefering den Bundestag. Als nachgerückter Abgeordneter vor 31 Jahren in das Parlament gezogen, hat er eine beeindruckende Politikerkarriere durchlaufen: Er war Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion und später deren Vorsitzender, von 1998 bis 1999 Bundesverkehrsminister und von 2005 bis 2007 Bundesminister für Arbeit und Soziales und gleichzeitig Vizekanzler der Großen Koalition. Zudem war er maßgeblich an der Agenda 2010 beteiligt. 2004 bis 2005 und 2008 bis 2009 war Müntefering SPD-Vorsitzender. Nun tritt er nicht wieder zur Wahl an. In einem Beitrag zieht er über seine Jahrzehnte als Bundestagsabgeordneter Bilanz:

"Ob ich nun Trauer oder Erleichterung spüre, wollen einige wissen. Beides nicht. Und ich vermute, das ändert sich auch nicht mehr.

Ich war gerne Abgeordneter, gute 32 Jahre lang im Bundestag, aber nun habe ich nicht mehr kandidiert und scheide mit der Neuwahl aus.

Vorher hatte ich 21 Jahre als Industriekaufmann, und wenn nun nach Bundestag nochmal reichlich Jahre als älterer Freischaffender obendrauf kommen, bin ich soweit zufrieden. Es gibt ja nur die eine Chance lange zu leben und die will ich nutzen. Soviel zum Ganzen.

Als ich 1975 nachrückte, gab es kein Handy und kein Fax, wenige Kopierer im ,Langen Eugen´, einen einzigen kleinen Büroraum für jeden Mandatsträger. Das Parlamentspräsidium trat überwiegend noch im Frack auf, Abgeordneten-Kolleginnen trugen keine Hosenanzüge, zumindest nicht am Rednerpult. Jeder Abgeordnete hatte seine namentlich ausgezeichnete Sitzbank, bei der SPD in alphabetischer Reihenfolge. Die Sitze waren weich und tief und widersprachen eindeutig der ergonomischen Vernunft, also dem Arbeitsschutz.

1976 konnte ich Kanzler Schmidt mitwählen - und Kanzlerwahl gewinnen war und blieb immer wieder ein Ereignis, das man nicht vergisst. Ich bin schon oft belehrt worden, dass zur Demokratie auch Opposition dazugehört. Akzeptiert und unbestritten. Aber das sollen bitte die anderen machen müssen, ich möchte lieber bei den Regierenden sein. Die Zeit der RAF war bedrückend und beängstigend. Ich habe begriffen, was Helmut Schmidt meinte, wenn er sagte: ,Als Gewählter bist Du verantwortlich. Manchmal lässt sich schwer erkennen, was richtig ist. Aber du mußt handeln. Und du trägst die Verantwortung.´ Helmut Schmidts Abwahl, 1982 im Herbst, die Wahl Kohls, war die einzige Situation in meiner Abgeordnetenzeit, in der ich ans Aufhören dachte. Ich war deprimiert.

Den 9.11.1989 erlebten wir im Wasserwerk, dem Mini-Plenarsaal in der Zeit des Bonner Neubaus, der wiederum mir der liebste unter den vier Parlamentssälen wurde, die ich seit 1975 erlebt habe.

Der Abend des 9.11.2001 und die Nacht bleiben eingebrannt. Erst am Morgen danach wurde es zur Gewissheit, dass es kein Blutvergießen wurde und die Freude war endgültig und ungetrübt. Die Einheit wurde möglich. Ich war im Bundestag dabei. 1990/91 wurde ich Parlamentarischer Geschäftsführer bei Hans-Jochen Vogel. Er machte die Arbeit und hielt Linie, als andere nicht mehr konnten und noch andere sich noch zu fein waren. Ich schätze Hans-Jochen Vogel hoch.

Die Wahl 1998 wurde die Wiedergutmachung für die lange Dürre der Kohl-Zeit. Die Leichtigkeit des Seins verschwand aber bald, trotzdem - oder gerade deswegen - gelang 2002 knapp die Wiederwahl. Weniger gefeiert, aber wirkungsvoll. Der Sieg ermöglichte regierungsintensive drei Jahre für Gerhard Schröder und blieb bestimmend auch noch für die Zeit der Großen Koalition. Die Sozialdemokratie stellte Weichen.

In den Jahren seit 2009 habe ich in den hinteren Reihen des Parlaments gesessen, mit wieder mehr Zeit für mich und für gründliche Arbeit an Themen, die mich besonders interessieren. Mir sind die Jahre gut bekommen und ich hoffe, meiner Fraktion auch.

Abgeordneter sein ist größte Verantwortung und höchste Auszeichnung, die es in der parlamentarischen Demokratie gibt.

Aber: Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl. Solange der Kopf klar ist, gilt die Mitverantwortung natürlich auch außerhalb des Parlaments. Ich werde ihr nicht ausweichen.

Und fröhlich bleiben."