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Die Sieben-Millionen-Lücke

DIE SONSTIGEN Durch die Fünf-Prozent-Hürde fallen diesmal so viele Wählerstimmen wie noch nie unter den Tisch. Die AfD als neuer Großer unter den Kleinen

30.09.2013
2023-08-30T12:24:05.7200Z
4 Min

Wählen gehen: Das war in den Tagen vor dem 22. September in den meisten Medien ein gebetsmühlenartiges Mantra. Sich der Abstimmung über den 18. Deutschen Bundestag zu verweigern, beschädige die Demokratie, hieß es da, und dass Wählen die elementarste Form der politischen Einflussnahme sei. Jede Stimme zähle.

Doch nach der Auszählung der Stimmen gibt es einen Befund, der so noch nie da war: Mehr Stimmen denn je sind bei dieser Bundestagswahl unter den Tisch gefallen -und zählen eben nicht. Nie zuvor war der Stimmenanteil der Parteien, die es nicht in den Bundestag geschafft haben, so groß: 15,7 Prozent. Mehr als 6,8 Millionen Stimmen, die abgegeben wurden, bleiben unberücksichtigt. Der Grund für den neuen Rekord ist, dass diesmal zwei Parteien ganz knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind. Während bei der FDP ihr Zweitstimmenergebnis von 4,8 Prozent zu tiefster Verzweiflung führte, sorgt fast derselbe Wert - 4,7 Prozent - bei der Alternative für Deutschland (AfD) für Euphorie.

Die erst im Februar 2013 gegründete Euro-kritische Partei wurde aus dem Stand die größte unter den Kleinparteien. Angetreten mit der Forderung nach einer "geordneten Auflösung des Euro-Währungsgebietes" konnte sie vor allem Wähler von der FDP abziehen, aber auch viele Protestwähler erreichen.

Einen solchen Erfolg hätten sich auch die Piraten gewünscht. Mit nur 2,2 Prozent der Stimmen blieb die Partei, die in vier Landtagen vertreten ist und im Frühjahr 2012 bei Umfragen noch als drittstärkste Partei gehandelt wurde, meilenweit hinter den eigenen Erwartungen zurück. Dabei bot die NSA-Ausspähaffäre der internetaffinen Partei eigentlich ein griffiges Wahlkampfthema. Doch die Personalquerelen des vergangenen Jahres und ein eher vages Programm in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen hatten bei den Wählern offenbar Zweifel geweckt, ob die Piraten ihr Motto "Themen statt Köpfe" wirklich umsetzen und ihre Ziele - mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz in politischen Entscheidungsprozessen - erreichen würden.

Wenig Stimmen

Kam das mäßige Resultat der Piraten für manche vielleicht überraschend, so schnitten die übrigen Kleinparteien erwartungsgemäß schlecht ab: Nur 1,3 Prozent der Zweitstimmen verbuchte die rechtsextreme NPD, die in den Landtagen von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen sitzt. Deutliche Gewinne gab es für die Partei in Berlin-Hellersdorf: Hier hatte sie gegen ein Asylbewerberwohnheim protestiert und für ihre ausländerfeindliche Propaganda in einigen Wahllokalen mehr als zehn Prozent kassiert.

Mit nur einem Prozent der Stimmen mussten sich auch die Freien Wähler zufriedengeben, die erstmals bundesweit angetreten waren. Mit ihren Forderungen nach einer stabilen Währung, einem vereinfachten Steuersystem und einer Stärkung des Mittelstands konnten sie nicht einmal in ihrem Ursprungsland Bayern punkten. Bundesweit gab es dafür nur ein Prozent der Stimmen - aber dafür die markige Aussage des bayerischen Landtagsfraktionschefs Hubert Aiwanger, mit diesem Prozent habe man "wohl die Alternative für Deutschland und die FDP beerdigt", weil beiden Parteien eben diese Stimmen gefehlt hätten.

Restlos unter "ferner liefen" gingen die Exoten der deutschen Parteienlandschaft aus dieser Wahl heraus: Jeweils 0,3 Prozent der Stimmen gab es für die Ökologisch-Demokratische Partei und die Tierschutzpartei, je 0,2 Prozent verbuchten pro Deutschland, die Republikaner und Die Partei. Mit 0,1 Prozent mussten sich die Partei der Vernunft, die Bayernpartei, die Rentner, die Volksabstimmung und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands zufrieden geben. Alle anderen "Kleinen" - unter ihnen die Familien-Parteien, die Partei Bibeltreuer Christen, oder Die Frauen - lagen noch darunter.

Dass bei dieser Wahl insgesamt so viele Stimmen als verloren gewertet werden müssen, läßt Politikwissenschaftler und Staatsrechtslehrer über eine neuerliche Wahlrechtsreform diskutierten. Viele Wähler hätten feststellen müssen, dass sie mit ihrem Kreuz nicht der gewünschten kleinen Partei in den Bundestag verholfen hätten, sagt der Speyerer Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim, "und sie darüber hinaus sogar Parteien zu Mandaten verholfen haben, die sie vielleicht auf keinen Fall gewählt hätten". Damit sei es für die Union fast möglich geworden, mit knapp 42 Prozent der Zweitstimmen eine absolute Mehrheit zu erringen. Arnim plädiert deshalb für eine Wahlrechtsreform, die dem Wähler eine Eventual-Stimme geben solle, die dann gezählt würde, wenn seine bevorzugte Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern solle. Die Fünf-Prozent-Klausel, argumentiert er, sei ein "schwerer Eingriff" in die Gleichheit der Wahl, der durch die Eventualstimme gemildert werden könne.

Alte Forderung

Damit greift er eine alte Forderung auf: Seit fast 30 Jahren wirbt der Chemnitzer Parteienforscher Eckhard Jesse für ein solches Konstrukt: "Durch die Existenz einer Nebenstimme schlüge sich das Votum des Wählers exakt nieder. Der positive Effekt der Fünf-Prozent-Klausel, das Parlament vor Zersplitterung zu schützen, bliebe gewährleistet. Ihr negativer Effekt, nämlich die fehlende Berücksichtigung von Stimmen, würde verschwinden."

Arnim sieht als weiteren Vorteil, dass eine Nebenstimme die "psychologische Sperre" vieler Wähler bei der Entscheidung für kleine Parteien verhindern würde, die den Effekt der Sperrklausel noch verschärften: "Sie müssten dann nicht befürchten, dass ihre Stimme verfällt." Über die Umsetzung dieses Vorschlags macht Arnim sich allerdings keine Illusionen: "Das hat politisch keine Chance - denn genau die Parteien, die aufgrund der bisherigen Konstruktion in den Bundestag gelangt sind und am meisten davon profitieren, müssten über eine Änderung entscheiden. Daran haben sie natürlich keinerlei Interesse."

Rüsten zur Europawahl

Derweil bringt der Bundesverband Mehr Demokratie eine Senkung der Fünf-Prozent-Hürde ins Spiel. Wenn Stimmen verloren gingen, werde der Grundsatz der Gleichheit der Stimmen unterhöhlt, heißt es zur Begründung des Vorstoßes .

Für die kleinen Parteien haben diese Überlegungen vorerst nur theoretischen Charakter. Vor allem zwei von ihnen werden heftig daran arbeiten, (wieder) groß zu werden: Sowohl FDP als auch AfD konzentrieren sich jetzt auf die Europawahl im Mai 2014. Mit besseren Chancen: Für diese Wahl hat der Bundestag unlängst eine Drei-Prozent-Hürde beschlossen.