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Ein Leben voller Anfänge

WILLY BRANDT Der vor 100 Jahren geborene Sozialdemokrat verkörperte das andere Deutschland. Die Einheit war ihm ein Lebensziel

02.12.2013
2023-08-30T12:24:08.7200Z
8 Min

Wir erinnern uns in Bildern. Auch die Lebensgeschichte Willy Brandts lässt sich in Bildern erzählen, die sich den Deutschen eingeprägt haben, so tief, dass jeder meinte, es wären Bilder aus seinem eigenem Leben - einem Leben mit Willy Brandt. Dabei waren es Zeitungsbilder, Fernsehbilder, Wochenschaubilder, erst schwarz-weiß und dann bunt. Immerhin drückte Brandt 1967 auf der Internationalen Funkausstellung den Startknopf für das Farbfernsehen. Kein anderer Kanzler ist so zur Ikone geworden, wie der in ärmlichen Verhältnissen vaterlos aufgewachsene Herbert Ernst Karl Frahm. Das Stigma, unehelich geboren zu sein, und dazu in der norwegischen Emigration einen neuen Namen angenommen zu haben, klebte in der "Spießer-Gesellschaft" der jungen Bundesrepublik an ihm wie Pech. Er hat darunter gelitten. In der "Häme und Bosheit", der Brandt ausgesetzt war, sah der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) eine der Ursachen dafür, dass Brandt "im Laufe der Zeit unnahbarer", aber "auch unverletzbarer" geworden sei, aber eben nicht "zynisch und menschenverachtend". Dieser Politikerkrankheit widerstand er bis an sein Lebensende.

Gegen den Strom

Die Biographen über ihn zeigen gern Fotos, die den Kleinen aus dem Lübecker Proletarierviertel St. Lorenz in der Standard-Kostümierung der Zeit abbilden - im Matrosenanzug mit Pickelhaube und Schießgewehr. Draußen war Krieg. Aber wir sehen ihn auch als Schüler, lässig, aber immer ernst, mit einer Miene, die zweifelt und fragt: Wo gehöre ich hin? Er lebte zwischen den Welten der hanseatischen Standesgesellschaft. Er trug die Schülermütze des elitären Lübecker Johanneums, für das er ein Begabtenstipendium hatte; aber in der Freizeit bekannte er sich mit Blauhemd und rotem Halstuch zur sozialistischen Jugendbewegung.

Weil er am Gymnasium den Konservativen kontra gab, erhielt er von den Schulkameraden den Spitznamen "Politiker"; und in seinem Abituraufsatz beantwortete Brandt, sich seiner Außenseiterrolle wohl bewusst, die Frage "Was hat Dir die Schule gegeben?" mit dem Bekenntnis: "Ich bin zum Leidwesen meiner Lehrer die letzten Jahre immer meine eigenen Wege gegangen, ich bin nicht traurig darüber. Sondern ich freue mich, denn ich glaube, ich wäre ein armer Mensch, hätte ich nicht das, was ich selber erarbeitet habe."

Selbstbewusstsein, das vor Anpassung bewahrt, sich Durchsetzen mit eigener Kraft, Mut auch gegen den Strom zu schwimmen, ein realistischer Blick auf die Umwelt, Distanz, und doch Geborgenheit in der Solidarität der Gleichgesinnten - das waren die Eigenschaften, mit denen Willy Brandt nun in ein Leben trat, das immer neue Anfänge für ihn hatte. Im April 1933 verließ er Lübeck auf einem Fischerboot in Richtung Skandinavien, denn er wollte in seiner Heimatstadt nicht Opfer der SA-Schläger werden. Die illegale Reichsleitung der links von der SPD agierenden Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) machte ihn zu ihrem Repräsentanten in Oslo. Er sammelte für Flugblätter Informationen aus Deutschland, wählte zur Tarnung den neuen Namen Willy Brandt und wandte sich, entnervt vom Streit der Emigranten um die einzig wahre Links-Gesinnung, den reformorientierten, politisch pragmatischen norwegischen Sozialdemokraten zu. Auch das war ein Anfang. Willy Brandt war Realist. Er wollte die Welt nicht mit Utopien verändern.

Und dann die Bilder aus Berlin. Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister der Stadt nach dem Mauerbau, in einer Triumph-Fahrt im offenen Wagen, winkend zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten John F. Kennedy und dem greisen Konrad Adenauer, inmitten der Kavalkaden weiß uniformierter Kradfahrer der Schutzpolizei, betäubt von immer wieder aufbrandenden Jubel der Menschenmassen. In dieser bedrohten Stadt musste ein Bürgermeister zugleich Weltpolitiker sein, ausgestattet mit einer politischen Vision, die nicht in Legislaturperioden denkt.

Brandt, der 1933 der einen Diktatur entkommen war, wollte der zweiten widerstehen. Er trug Verantwortung für die zwei Millionen Bürger im Westteil der Stadt, die während der Blockade dem Druck der Sowjets und der SED nicht nachgegeben hatten, und er litt mit den Bewohnern unter der schmerzhaften Teilung, die Geschwister von Geschwistern, Eltern und Kinder voneinander trennte. Brandt fühlte sich als Bürgermeister der ganzen Vier-Sektoren-Stadt und suchte mit kühlem Verstand nach politischen Lösungen. Und so entstand beginnend mit den Passierscheinabkommen in zähen Verhandlungen das Konzept für eine Entspannung zwischen den Blöcken. Es war Brandts Verdienst, mit seinem Denkgefährten Egon Bahr und ihrer gemeinsamen Ost-Politik Deutschland nach dem Mauerbau vom Objekt der Siegermächte zu einem "souveränen Subjekt in der Mitte Europas" (Bahr) gemacht zu haben. Schon vor Helmut Kohl. Dieser politische Realismus Brandts wurde 1971 mit dem Friedensnobelpreis belohnt.

Und wieder ein Bild, das sich nicht nur ins deutsche Gedächtnis eingeprägt hat. Bei Brandts Besuch in der polnischen Hauptstadt zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages 1970 sammeln sich die Regierungsdelegationen am Denkmal für die Opfer des von SS-Einheiten ausgelöschten jüdisches Ghettos. Solche Gedenkfeier sind selten ohne Journalistengedrängel, Getuschel und Gewusel, das die Würde des Augenblicks stört. Doch hier verstummt für Minuten jeder Laut. Und auch in den hinteren Reihen, von denen es keinen direkten Blick auf das Geschehen an den Stufen des Ehrenmals gibt, spüren die Anwesenden, dass sie Zeugen eines historischen Ereignisses werden. Es raunt durch die Reihen: "Er kniet." Und gedenkt so der Opfer. Brandt war frei von jeder Schuld. Er hatte nie den Arm zum Hitler-Gruss erhoben, nie am Revers das Abzeichen einer Nazi-Organisation getragen. Und doch bekannte er an diesem Tag die Schuld seines Volkes. Abends fragte ihn Bahr, ob diese Geste geplant war. Und Brandt antwortete: "Ich hatte den Eindruck, eine Neigen des Kopfes genügt nicht." So gab es nur diese eine Antwort: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."

Es ist schwer, Vergleiche zu ziehen. Adenauer war mit seiner West-Politik und der Aussöhnung mit Frankreich so erfolgreich, weil er schon zur Weimarer Zeit alle Vorbehalte gegen Preußen mit den europäischen Nachbarn teilte. Kohls Wiedervereinigungspolitik zehrte von dem Eindruck, einem biederen Deutschen gegenüberzustehen, der fern von jeder Großmannssucht und in Erinnerung an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, die die eigene Familie durchlitten hatte, ein friedliches und bescheidenes Deutschland garantierte. Und Willy Brandt? Sein Lebensweg und seine daraus gewonnene Haltung befähigten ihn, in den Zeiten des eiskalten Krieges, in denen die Großmächte wie in der Kubakrise den Daumen schon am nuklearen Abzug hatten, als Versöhner und ehrlicher Makler aufzutreten. Er sprach für sein Volk, ohne Anteil an den in deutschen Namen begangenen Verbrechen zu haben. Er war Antifaschist. Deshalb war er in Warschau, in Prag und in Moskau ein Gast, dem man ohne Widerwillen die Hand reichen konnte. Und sein Kniefall bewies der Welt, dass er Politik mit dem Herzen und nicht allein aus diplomatischer Berechnung betrieb. Für diese Haltung hatte ihm sein Redenschreiber Klaus Harpprecht den englischen Begriff "compassion" in seine Regierungserklärung geschrieben. Brandt übersetzte das in die Tat.

"Deutscher Kennedy"

Der Eintritt in die Bundesregierung war ein historisches Datum auch für die SPD. Mit Willy Brandt wurde die Partei in der neuen Republik wirklich heimisch. Brandt war der erste sozialdemokratische Kanzler seit Hermann Müller, der von 1928 bis 1930 in Berlin regierte. Müller, außenpolitisch erfolgreich, stürzte mit seiner sozial-liberalen Regierung, weil die eigene Fraktion einer maßvollen Erhöhung der Abgaben für die Arbeitslosenversicherung nicht zustimmen wollte. Drei Jahre später waren die Nationalsozialisten an der Macht. Die SPD wurde zerschlagen. Jetzt konnten die Sozialdemokraten beweisen, dass sie wieder fähig waren, das Land politisch zu führen.

Brandt war der Mann der Zukunft, mit 56 Jahren der jüngste Kanzler der jungen Republik. Er war in den Wahlkämpfen gegen Adenauer, Erhard und Kiesinger gedemütigt worden, doch er hatte nie resigniert. Jung, kämpferisch, gutaussehend stand er als "deutscher Kennedy" für einen Neubeginn, nach dem viele sich sehnten. Er war der erste im Kanzleramt, der nicht der Klasse der "Alten Herren" mit Uni-Examen und Verbindungsmütze entstammte. Das Leben hatte Willy Brandt mehr gelehrt als jedes Oberseminar. Anders als die Studenten und Jungakademiker, die vom "Willy-Willy"-Charisma angezogen jetzt nach Mitgliedsbüchern der SPD verlangten, brauchte er die Arbeiterlieder für die sozialdemokratischen Feierstunden nicht erst mühsam auswendig zu lernen. Er hatte "Brüder zur Sonne zur Freiheit" schon in seiner Jugend gesungen.

Mit ihm brach ein neues Klima sich Bahn. Bildung war ein Stichwort, Emanzipation ein anderes; und alles zusammen auf eine griffige Formel gebracht: "Mehr Demokratie wagen." Das Wahlalter wurde von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Ein reformiertes Betriebsverfassungsgesetz räumte den Arbeitnehmern mehr Rechte ein. Der Schwangerschaftsabbruch wurde bis zur zwölften Woche straffrei gestellt. Was Mitte der 1960er Jahre als studentische "Aktion Bildungswerbung" begonnen hatte, war nun offizielle Politik. Höhere Schulen und Universitäten sollten sich Kindern aus Arbeiter- und ländlichen Familien öffnen. Für dieses Thema stand Willy Brandt mit seinem eigenen Lebensweg. In seiner Jugend war Bildung für alle noch eine Vision, jetzt wurde es überall Realität.

Gespaltenes Land

Und doch war die Republik tief gespalten. Über die Vertragspolitik mit den östlichen Nachbarn und die staatliche Anerkennung der DDR tobte der Streit in den Medien und im Parlament. Aber Brandt schien über den Wassern zu schweben. Bei einem Besuch in Erfurt jubelten ihm die Ost-Deutschen zu, als wäre hier einer schon 1970 der "Kanzler aller Deutschen". Er strahlte mehr Sympathie aus als der CDU-Oppositionsführer Rainer Barzel. Und so ging Brandt auch aus den schmählichsten Stunden der deutschen Nachkriegsdemokratie, als Stimmenkauf und Verrat das von der Union initiierte konstruktive Misstrauensvotum scheitern ließen, ohne Ansehensschaden hervor. Scheitern ließ Willy Brandt dann letztendlich die eigene Partei. Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Herbert Wehner, mit Brandts in seinen Augen zu lascher Amtsführung unzufrieden, stichelte allerorten, selbst auf einer Auslandsreise in Moskau: "Brandt führt nicht. Der Herr badet gerne lau. Der Regierung fehlt ein Kopf."

Das verschlagene Hinter-dem-Rücken-Gerede hatte da bereits die Journalisten erreicht. Brandt erstarrte. Er war in einer Partei aufgewachsen, in der Solidarität über allem stand. Als dann der Verfassungsschutz schlampte und der Spion im Kanzleramt Günter Guillaume viel zu spät enttarnt und festgesetzt wurde, entschied sich Brandt 1974 für den Rücktritt. Er ging in sich gekehrt und erleichtert, obwohl Wehners laut herausgeschrienes Abschiedswort "Wir alle lieben ihn!" wie ein Peitschenhieb des Ruchlosen wirken musste. Dem Freund Egon Bahr schossen Tränen in die Augen. Und noch ein Bild. Es liegt ein halbes Jahrhundert zurück.1963 drängen sich die West-Berliner an den Passierscheinstellen, um zum ersten Mal nach dem Mauerbau für ein paar Stunden ihre Verwandten im Osten der Stadt besuchen zu können. Willy Brandt feiert Geburtstag, und mit Blick auf den ersten humanitären Erfolg seiner Berliner Entspannungsbemühungen sagt er: "Diese Weihnachtswochen werden dokumentieren, dass wir ein Volk und eine Nation sind." Er hat alles dafür getan. 1989 erlebt er den Mauerfall. Und der Satz, den er fast beiläufig zu einigen Journalisten sagt - "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!" - ist ein schlüssiges Resümee seines Lebenswerks. Er wollte daran mitwirken, "dass der deutsche Name, der Begriff des Friedens und die Aussicht auf europäische Freiheit zusammengedacht werden" können. Diese Hoffnung hat sich für ihn und sein Land erfüllt.