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Warschauer Ghetto : "Ihr wisst, dass es hier zu viel Juden gibt"

2012 erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki vor dem Bundestag

11.08.2014
2023-08-30T12:26:18.7200Z
2 Min

Am 27. Januar 2012, am jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, war der mittlerweile verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki der Hauptredner vor dem Bundestag. Er überlebte das Warschauer Ghetto und wurde nach dem Krieg einer der bekanntesten Intellektuellen der Bundesrepublik. Wir dokumentieren einen Auszug seiner Rede über eine von der SS am 22. Juli 1942 anberaumte Sitzung in den Räumen des Judenrates, die Reich-Ranicki protokollieren musste:

"Höfle (SS-Sturmbannführer und Leiter der Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer, d. Red.) eröffnete die Sitzung mit den Worten: ,Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zuviel Juden gibt. Euch, den Judenrat, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben.´ Er zeigte mit der Hand auf den Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Wir spürten, dass der vierschrötige Mann - er war erst 31 Jahre alt - nicht die geringsten Bedenken hätte, uns sofort erschießen.

So schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich diktierte er einen mitgebrachten Text. Die Stille im Raum war unheimlich, und sie wurde noch intensiver durch die fortwährenden Geräusche: das Klappern meiner alten Schreibmaschine, das Klicken der Kameras einiger SS-Führer, und die aus der Ferne kommende, leise und sanfte Weise von der schönen, blauen Donau.

Von Zeit zu Zeit warf mir Höfle einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich auch mitkäme. Ja, ich kam schon mit, ich schrieb, dass ,alle jüdischen Personen´, die in Warschau wohnten, ,gleichgültig welchen Alters und Geschlechts´, nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort ,Umsiedlung´? Was war mit dem Wort ,Osten´ gemeint, zu welchem Zweck sollten die Warschauer Juden dorthin gebracht werden? Darüber war in Höfles Ausführungen nichts gesagt. [...]

Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, dass die ,Umsiedler´ 15 Kilogramm als Reisegepäck mitnehmen dürften sowie ,sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold´. Noch am selben Tag sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des ,Judenrates´ durchführen musste, 6.000 Juden zu einem an einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen. Von dort fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wusste niemand, wohin die Transporte gingen. [...]

Wenige Augenblicke später verließen die SS-Führer das Haus. Kaum waren sie verschwunden, da verwandelte sich die tödliche Stille nahezu blitzartig in Lärm und Tumult: Noch kannten die vielen Angestellten des ,Judenrates´ die neuen Anordnungen nicht. Doch schien es, als spürten sie schon, was sich eben ereignet hatte - dass über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil." PA