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FLÜCHTLINGE
Silke Wettach
In Einigkeit uneins

Auch nach dem Sondergipfel ist die EU weit entfernt von einer neuen Migrationspolitik

Nach den dramatischen Ereignissen im Mittelmeer hatte Frankreichs Staatspräsident François Hollande vor dem kurzfristig am Donnerstag einberufenen EU-Sondergipfel gemahnt, dass es sich nicht um einen gewöhnliches Treffen von Staats- und Regierungschefs handeln könne. „Wir müssen sehr viel weiter gehen.“ Er forderte damit Worte statt Symbolik ein. Doch auf dem Gipfel, der mit einer Schweigeminute begann, wurde vor allem deutlich, welchen langen Weg die EU vor sich hat, wenn sie das Problem der Migration grundsätzlich anders als bisher angehen will. EU-Ratspräsident Donald Tusk betonte nach dem Treffen: „Die Staats- und Regierungschefs hatten keine Illusionen, dass wir diesen internationalen humanitären Notstand heute lösen würden.“

Konkret wurde auf dem Gipfel beschlossen, die Mittel für die Seenothilfe in diesem und im kommenden Jahr zu verdreifachen. Damit würden im Monat neun Millionen Euro zur Verfügung stehen, exakt jener Betrag, den die italienische Regierung für das mittlerweile gestoppte nationale Programm „Mare Nostrum“ ausgegeben hatte. Merkel unterstrich, dass der Betrag noch aufgestockt werden könnte: „Wenn es noch mehr sein muss, muss es mehr sein. Dann wird es am Geld nicht scheitern.“

Unklar ist allerdings, wo genau die „Triton“-Mission operieren wird. Unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es nach Merkels Angaben unterschiedliche Vorstellungen darüber. Bisher ist „Triton“ 30 Seemeilen vor der italienischen Küste im Einsatz. Damit ist die Mission in einem sehr viel geringeren Radius aktiv als „Mare Nostrum“, innerhalb dessen sich Schiffe der libyschen Küste annäherten. Die Bundesregierung bietet zwei zusätzliche Schiffe an, andere Länder haben ebenfalls Verstärkung in Aussicht gestellt.

Auf dem Gipfel vereinbarten Politiker auch, den Kampf gegen Schleuserbanden zu verstärken. „Alle waren sich einig, dass diesem zynischen Geschäftsmodell die Grundlage entzogen werden muss“, sagte Merkel. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hatte die Schleuserbanden zuvor „Sklavenhändler des 21. Jahrhunderts“ genannt. Die Hohe Vertreterin für Auswärtiges, Federica Mogherini, soll prüfen, wie Militäreinsätze im Rahmen des Völkerrechts stattfinden können, um jene Schiffe zu zerstören, die von den Schleusern zum Flüchtlingstransport eingesetzt werden. Dies dürfte sich in der Praxis als schwierig erweisen, Verwechslungen mit Fischerbooten sind nicht ausgeschlossen.

Keine Einigung erreichten die in Brüssel versammelten Politiker in der Frage der fairen Verteilung von Asylbewerbern. Merkel rechnete vor, dass Schweden und Deutschland bisher 45 Prozent der Asylbewerber registrieren. Gemeinsam mit Italien, Frankreich und Ungarn verzeichnen sie über 70 Prozent der Asylbewerber. Die ungleiche Verteilung der Last ist seit Jahren ein Streitthema zwischen den EU-Ländern. Nach der geltenden Rechtslage müssen Asylbewerber in den Ländern registriert werden, in denen sie die EU betreten. Doch manche Länder lassen die Menschen weiterziehen. Selbst unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse hat etwa der britische Premier David Cameron keine Bereitschaft zu erkennen gegeben, mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen.

Verständigt haben sich die Staats- und Regierungschefs nur auf ein EU-weites, freiwilliges Pilotprojekt zur Verteilung von Flüchtlingen. Ursprünglich sollte dies auf 5.000 Personen beschränkt sein, nun ist kein Limit vorgesehen. Merkel sieht die Vereinbarung als einen „ersten Schritt, auf den noch viele folgen müssen“. Einen verbindlichen Schlüssel, der die Quoten für alle Länder festlegt, etwa nach der Wirtschaftsleistung, ist noch in weiter Ferne – wenn er sich denn je realisieren lässt.

Ungleich verteilt sind bisher auch die Zuständigkeiten beim Grenzschutz. Ein kleines Land wie Malta mit 430.000 Einwohnern ist zuständig für Such- und Rettungsaktionen in einer Zone von 250.000 Quadratkilometern. Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments (EP), wies die in Brüssel versammelten Politiker darauf hin, dass sich an dieser ungleichen Lastenverteilung nichts geändert hat, seit er vor zwanzig Jahren erstmals ins EP gewählt wurde: „Seither fordert das Europäische Parlament eine wirklich europäische Asyl- und Migrationspolitik. Heute könnte ich immer noch dieselbe Rede halten.“ So lange es keine gemeinsame Politik auf diesem Gebiet gibt, wird es aber schwierig, eine Debatte über mehr legale Migration ernsthaft zu führen.Europa muss sich darauf einstellen, dass der Migrationsstrom in den kommenden Jahren andauern wird. Entlang des Mittelmeers herrscht ein Wohlstandsgefälle, wie es auf der Welt nur zwischen Nord- und Südkorea herrscht. Gleichzeitig wüten in der Nachbarschaft Europas Kriege, in Syrien und Libyen etwa, bei denen sich kein Ende abzeichnet. Die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Palermo geht davon aus, dass aktuell bis zu einer Million Menschen in Libyen darauf warten, nach Europa zu übersetzen. So lange die Fluchtursachen nicht bekämpft werden, dürfte der Flüchtlingsstrom nicht abebben.

Gesamtstrategie notwendig Merkel hat in Brüssel ausdrücklich betont, dass es beim Thema Migration darum gehe, eine „Gesamtstrategie“ zu entwickeln. Das bedeutet auch, dass Europa künftig aktiver Außenpolitiker betreiben und sich für die Befriedungseiner Nachbarschaft einsetzen muss. Beim nächsten EU-Gipfel im Juni wird das Thema Migration wieder auf der Tagesordnung stehen – mit Sicherheit nicht zum letzten Mal.

Die Autorin ist Korrespondentin der Wirtschaftswoche in Brüssel.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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