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GROSSBRITANNIEN
Stefanie Bolzen
Showdown an der Themse

Vor der Wahl am 7. Mai ist völlig ungewiss, wer der nächste Premierminister wird

Lange Zeit hatte David Cameron keinerlei Nervosität erkennen lassen. Ganz im Stil des selbstsicheren Amtsinhabers hielt sich der britische Premier im seit Anfang April offiziell laufenden Wahlkampf zurück. Er ließ sich auch nicht von donnernden Schlagzeilen irritieren, nachdem er ein direktes Fernsehduell mit seinem Herausforderer Ed Miliband von der Labour-Partei aller Kritik zum Trotz ausgeschlagen hatte. Doch mit jedem Tag, mit dem der Urnengang näher rückt, wird eine Perspektive sicherer: dass die schottischen Nationalisten der Scottish National Party (SNP) drittstärkste Partei werden und damit das Wohl und Wehe des Königreichs in den kommenden fünf Jahren mitbestimmen.

Eine Perspektive, die den lange so präsidentiell auftretenden, konservativen Regierungschef mittlerweile sichtlich aus der Ruhe bringt. „Es wäre das erste Mal in unserer Geschichte, dass eine Gruppe von Nationalisten die Richtung unserer Regierungsarbeit verändern könnte. Ich finde das eine furchterregende Aussicht“, wetterte Cameron in der „Andrew Marr Show“ des BBC Fernsehens, ein allsonntäglicher Gradmesser für die politische Wetterlage.

Wie kann es sein, dass sich die großen Parteien in der Hauptstadt so große Sorgen darum machen, was eine kleine regionale Partei im hohen Norden treibt?

Das liegt zum einen an dem extrem engen Rennen zwischen Konservativen und Labour. Zwei Wochen vor der Wahl lagen beide im Umfrageschnitt gleichauf bei
34 Prozent, mit Ausschlägen nach oben und unten. Doch kein ernst zu nehmender Meinungsforscher sieht noch eine Chance, dass Tories oder Sozialdemokraten am Morgen des 8. Mai mit einer absoluten Mehrheit aufwachen. Ohne Koalitionspartner oder eine oder mehrere Parteien, die eine Minderheitsregierung unterstützen, öffnet sich die Tür zu Downing Street 10 aber nicht.

Eine andere Ursache ist das britische Wahlrecht. Der Kandidat oder die Kandidatin, die in einem der 650 Wahlkreise die meisten Stimmen bekommt, zieht ins Unterhaus ein. Deshalb wird beispielsweise die Anti-EU-Partei Ukip am Ende möglicherweise nicht mehr als drei Sitze gewinnen, obwohl deutlich mehr als zehn Prozent der Wähler im gesamten Königreich für die Partei stimmen könnte. Die SNP hingegen, die landesweit auf kaum über fünf Prozent kommen dürfte, kann mit mehr als 40 der 59 in Schottland zu vergebenen Mandaten rechnen. Der Grund: Die Nationalisten haben seit dem knapp verlorenen Referendum im September 2014 enormen Auftrieb bekommen.

Die britischen Medien versuchen seit Wochen, sich in Seiten füllenden Grafiken mögliche Koalitionsszenarien auszumalen. Nach Umfragestand zwei Wochen vor der Wahl sieht keine gut für Amtsinhaber Cameron aus. Sein jetziger Juniorpartner, die Liberaldemokraten, werden aller Voraussicht nach böse für ihre seit der letzten Wahl 2010 währende Ehe mit den Tories abgestraft. Prognosen sehen die Partei von Vizepremier Nick Clegg bei weniger als
30 Sitzen.

Der hält sich trotzdem alle Türen offen. Wie die SNP kann auch seine Partei erneut zum Königsmacher werden. „Wir würden Labour Köpfchen geben und den Konservativen ein Herz“, erklärte Europafreund Clegg kürzlich bei einem Wahlkampfauftritt.

Doch Cameron würde eine Neuauflage der bisherigen Koalition zur notwendigen Mehrheit von 326 Stimmen nicht reichen. Eine Allianz mit Ukip haben die Tories bisher lautstark ausgeschlossen. Die EU-feindliche Partei, die aus der Europawahl im Mai 2014 mit 26 Prozent als klarer Sieger hervorging, führt unter Parteichef Nigel Farage einen populistischen Wahlkampf und wettert ungerührt über schmarotzende HIV-Kranke und EU-Ausländer. Mit den Liberaldemokraten, die sich als einzige Partei klar zur EU-Mitgliedschaft bekennen, passte Ukips kategorische Forderung nach einem sofortigen Austritt aus der Union ohnehin nicht zusammen.

So könnte Sozialdemokrat Ed Miliband der nächste Regierungschef werden, obwohl seine Labour-Partei nicht die meisten Sitze gewinnt. Denn die schottischen Nationalisten sind nicht abgeneigt, Miliband in die Downing Street zu helfen. Zwar nicht als offizieller Koalitionspartner, aber durch „confidence and supply“: durch die generelle Zusage, Labour bei Gesetzesprojekten zu unterstützen.

Das Parteiprogramm der SNP unter ihrer charismatischen Chefin Nicola Sturgeon liegt noch ein Stück weiter links von Labour. Sturgeon will den Sparkurs der Tories beenden, neue Schulden für staatliche Investitionen machen und das Defizit langsamer abbauen. Labour lockt die Wähler vor allem mit dem Versprechen größerer Fairness bei der Verteilung des Wirtschaftswachstums. Miliband hat sich zudem klar gegen ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen – eine weitere Schnittmenge mit den europafreundlichen Schotten. Doch es tun sich Gräben auf, wenn es etwa um die mit Atomsprengköpfen ausgestattete U-Boot-Flotte geht, die unweit von Glasgow an der schottischen Westküste stationiert ist. 2016 muss über ihre Sanierung entschieden werden. Für die SNP ist die umgerechnet rund 135 Milliarden Euro teure Erneuerung von „Trident“ eine rote Linie, Sturgeon will das Geld lieber ins darbende nationale Gesundheitssystem NHS und die Bildung stecken. Doch kein Premier würde jemals den britischen Status einer Atommacht preisgeben – auch Ed Miliband nicht.

Zankapfel Schottland Und es gibt noch ein weiteres Problem: Die SNP will ein unabhängiges Schottland. 2016 finden Regionalwahlen statt, und die mit beeindruckendem politischen Instinkt gesegnete Erste Ministerin wird bis dahin alles tun, um Entscheidungen auf nationaler Ebene zu Gunsten ihrer Partei zu lenken. Sie will mehr Macht für Edinburgh, aber gleichzeitig mehr Geld aus London.

Gewaltige Spannungen mit England sind programmiert und die vertrackte politische Lage auf der Insel ist nach der Wahl am
7. Mai möglicherweise noch dramatischer als zuvor. Die Buchmacher geben die Wettquote, dass es noch 2015 Neuwahlen gibt, mittlerweile mit 4:1 an.

Die Autorin ist Korrespondentin der „Welt“ in Großbritannien.

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