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LONDON
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Traditionalisten gegen Modernisierer

Der ehrwürdige Sitz des britischen Parlaments zerfällt. Doch nicht nur die Mauern bedürfen dringend der Sanierung

Das Urteil fiel unzweideutig aus: „Schuldig des Verrats, Mordes, der Vergewaltigung, Brandstiftung, Verwüstung, des Raubs, Schadens und Unheils an dieser Nation.“ Wenige Tage später, am 30. Januar 1649 legte Charles I. seinen Kopf vor dem Banqueting House im Herzen von Westminster auf einen Holzblock, auf dem der Henker ihn hinrichtete.

Heute laufen Tausende Füße Tag für Tag über jene Stufe, auf der Englands König stand, als ihn das Parlament dank eines flugs eingerichteten Gerichts zum Tode verurteilte. Über jene Stelle, an welcher der „Gott gegebene“ Machtanspruch der Monarchie endgültig gegen das Mandat des Volks verlor. Die Westminster Hall, deren Wände seit 1097 stehen, ist das Herz englischer und europäischer Demokratiegeschichte.

Doch Englands Institutionen tragen zuweilen schwer an ihrer Tradition und Geschichte. Beide Häuser des britischen Parlaments – das House of Commons wie das House of Lords – bedürfen dringend der Modernisierung. Doch die materielle wie juristische Renovierung des Unterhauses sorgt unmittelbar vor Beginn des Wahlkampfes für Schlagzeilen. John Bercow, als Sprecher („Speaker“) des House of Commons eine mächtige Figur im Unterhaus, hatte vergangenen Sommer eine Personalie entschieden, die großen Unmut entzünden sollte. Der Konservative ist als Speaker mit seinem berühmten Ruf nach „Order! Order!“ nicht nur für Ordnung in den traditionell heftigen Parlamentsdebatten zuständig. Ihm untersteht auch die Verwaltung des Unterhauses, und er sitzt der House of Commons Commission vor, die über das Personal bestimmt. Der höchste zu vergebene Posten ist der des Clerk, eine Art Generalsekretär des Parlaments. Seit 1363 gibt es diesen Job, der heute mit einem Jahresgehalt von umgerechnet etwa 260.000 Euro großzügig entlohnt wird.

Der Clerk ist das Herz des Parlaments, er oder sie berät die Abgeordneten bei allen Gesetzesverfahren und Parlamentsprozederen. Eine gewaltige Verantwortung, schließlich hat Großbritannien keine Verfassung. Der Clerk muss also jede Nuance aller Gesetze kennen. Gleichzeitig ist er Geschäftsführer des Unterhauses mit seinen rund 2.000 Mitarbeitern. Er sitzt damit an allen Schnittstellen der parlamentarischen Macht im Königreich.

Diesen Posten wollte Bercow erstmals mit jemandem von außen besetzen, der vor allem Managementqualitäten aufweisen sollte. Die Wahl fiel auf eine Australierin namens Carol Mills, die im dortigen Senat seit 2012 Verwaltungschefin ist. Doch Bercow hatte nicht mit der Welle der Empörung gerechnet, die aus den Reihen der Abgeordneten über ihn hereinbrechen sollte.

Politische Urgesteine wie der ehemalige Außenminister Jack Straw und der einstige Speaker Baroness Boothroyd hielten Mills mit der ihr zugedachten Rolle für „völlig überfordert“. Ein Kampf zwischen Traditionalisten und Modernisierern brach aus, und auch ein Kampf gegen den nicht gerade populären Bercow. Der politische Druck wurde so hoch, dass Premierminister David Cameron, der den Personalvorschlag traditionell an die Queen zum Abzeichnen weiterleiten muss, selbigen auf Eis legte.

Mäusefallen vor der Kantine Dabei ist allen Abgeordneten klar, dass ihre Arbeitsstätte der dringenden Überholung bedarf, in jeder Hinsicht. Rund 10.000 Menschen haben einen Zugangsschein für den Palast von Westminster, dessen allergrößter Teil in Viktorianischer Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Die alte Bausubstanz und die Lage gleich an der Themse haben ihren Preis.

In der gleich an der Außenterrasse gelegenen Kantine stehen Mäusefallen. „Als ich mir letztens an der Essenstheke meinen Pudding bestellte, sah ich eine kleine Maus über den Boden flitzen. Aber Mäuse sieht man hier ja überall“, erzählt der Konservative Andrew Percy. Glasscheiben fallen aus den Bleirahmen, Wasserrohrbrüche gehören zum Alltag der Haustechniker. Ein Mitarbeiter, der anonym bleiben will, beklagt die Denkmalschutzvorschriften. „Wir brauchen dringend mehr Büroräume. Aber ein ungenutztes Badezimmer auf unserem Flur dürfen wir nicht umbauen, weil es aus den 1930er Jahren stammt.“

Der Betrieb des Parlaments verschlingt rund 300 Millionen Euro pro Jahr. Eine Kernsanierung ist unvermeidlich, bis zu vier Milliarden Euro könnte sie kosten. Etappenweise müssen Gebäudeteile geräumt und die Abgeordneten anderswo untergebracht werden.

Auf den nächsten Clerk kommt also eine riesige Managementaufgabe zu. Um den Streit um Bercows Personalentscheidung nicht eskalieren zu lassen und der kritischen Öffentlichkeit nicht noch weiteres Futter zu geben, bildete man schnell eine Kommission. Unter dem Vorsitz von Jack Straw wurde binnen weniger Wochen eine Empfehlung ausgearbeitet. Künftig ist der Clerk nur noch für die juristische Beratung zuständig. Er bekommt aber einen Generaldirektor zur Seite, der das Management übernimmt. Das Unterhaus stimmte der Empfehlung umgehend zu; mit David Natzler ist bereits ein neuer Clerk im Amt, der das Vertrauen der Traditionalisten genießt. Bald wird auch der Generaldirektor, ein Externer, gekürt. Zumindest die personelle Aufsicht ist damit gesichert. 2016 entscheiden die 650 Parlamentarier über die Sanierung des Palasts von Westminster. Ab 2020 werden Londons Big Ben und seine Anbauten dann zur größten Baustelle der britischen Hauptstadt.

Aus Politik und Zeitgeschichte

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