Piwik Webtracking Image

TÜRKEI : Ende einer Ära

Die Wähler haben Erdogans Plan einer »Präsidialdemokratur« gestoppt

15.06.2015
2023-08-30T12:28:03.7200Z
3 Min

Es hört sich hochtrabend an, trifft aber zu: In der Türkei hat eine neue Ära begonnen. Das sagt noch nichts über deren demokratische Qualität, doch sicher ist, dass in Ankara nun erstmals seit dem Ende der 1990er Jahre wieder Koalitionsverhandlungen geführt werden.

Die von 2002 bis 2015 mit absoluter Mehrheit regierende "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) wurde bei der Parlamentswahl am 7. Juni zum vierten Mal in Folge stärkste Kraft, doch 40,9 Prozent der Stimmen reichten diesmal "nur" für 259 von 550 Mandaten. Außer der AKP gelang noch drei weiteren Parteien der Sprung über die oft als undemokratisch hoch kritisierte Zehn-Prozent-Hürde, deren Senkung nun womöglich ansteht. Die in einem unabgeschlossenen Wandel begriffene "Republikanische Volkspartei" erhielt laut den amtlich noch nicht bestätigten Ergebnissen 24,8 Prozent und 131 Mandate, die "Partei der nationalistischen Bewegung" 16,3 Prozent und 80 Sitze. Erstmals im Parlament vertreten ist die vornehmlich von Kurden, zumindest bei dieser Wahl aber auch von taktisch wählenden Gegnern der AKP und des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan unterstützte "Demokratische Partei der Völker" (HDP). Sie wurde mit 13,4 Prozent der Stimmen viertstärkste Kraft in den Wahllokalen und wird mit 80 Sitzen in der Großen Nationalversammlung vertreten sein. Erst der Einzug der HDP ins Parlament, der lange als ungewiss galt, bewirkte die grundsätzliche Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse.

Selbstverständlich wird in der Türkei nun eifrig über Koalitionsszenarien diskutiert. Zumindest mathematisch sind ein Dutzend und mehr Varianten möglich. Da sich die Determinanten jedoch rasch ändern und zudem lange Verhandlungen erwartet werden, die letztlich statt zu einer Regierung auch zu Neuwahlen führen könnten, ist es sinnvoller, den Blick auf die großen Linien zu richten, denen die Entwicklung folgen könnte.

Korruptionsvorwürfe Die rechnerisch bestehende, politisch aber fragwürdige Möglichkeit, im derzeitigen Parlament eine Koalition unter Ausschluss der AKP zu bilden, will die bisherige Regierungspartei unbedingt verhindern. Das hat mit den von der AKP mit aller Macht niedergeschlagenen Korruptionsermittlungen zu tun, die Ende 2013 öffentlich wurden. Bei allem begründeten Misstrauen in die Methoden und die Unabhängigkeit der türkischen Justiz hatten diese zum Teil auf illegal abgehörten Telefongesprächen beruhenden Ermittlungen einen Anfangsverdacht über ein hohes Ausmaß an Korruption, Machtmissbrauch und Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze bestätigt. Die AKP reagierte hart. Mit Fällen von mutmaßlicher AKP-Korruption befasste Justizbeamte wurden strafversetzt, einige sogar ihrerseits angeklagt. Teile des Beweismaterials wurden vernichtet, die Ermittlungen schließlich eingestellt. Selbst wenn sich nur ein Teil der Vorwürfe in einem rechtsstaatlichen Ansprüchen genügenden Prozess nachweisen ließe, müssten mehrere hohe AKP-Politiker wohl ins Gefängnis. Die Rolle Erdogans dabei ist unklar, aber da er als Staatspräsident laut Verfassung ohnehin nur des Hochverrats angeklagt werden kann, hätte die Justiz frühestens nach dem Ende seiner Amtsszeit 2019 Zugriff auf ihn.

Vor diesem Hintergrund ist es machtpolitisch aber verständlich, dass Erdogan und die alte AKP-Elite ein Interesse daran haben, an der neuen Regierung mitzuwirken, um eine etwaige Wiederaufnahme der Ermittlungen zu verhindern. Das entspricht nicht rechtsstaatlichen Lehrbüchern, aber der politischen Wirklichkeit der Türkei.

Diese Wirklichkeit hat freilich auch die Stärke der türkischen Demokratie dokumentiert. Gelegentlich zu hörende Gleichsetzungen von Erdogans Türkei mit Putins Russland sind falsch. Die Türken haben den immer selbstherrlicher agierenden Erdogan auf dem Weg zur Errichtung einer "Präsidialdemokratur" gestoppt - was an den Wahlurnen möglich war. Die Türkei ist alles andere als eine mustergültige Demokratie, aber es ist eine Demokratie. Das dürften auch die kommenden Monate demonstrieren - ob in Form einer Koalitionsregierung oder durch Neuwahlen.

Der Autor ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".