Piwik Webtracking Image

NSU-Skandal : Widersprüchen auf der Spur

Ein zweiter Untersuchungsausschuss könnte die vielen offenen Fragen aufarbeiten

05.10.2015
2023-08-30T12:28:09.7200Z
7 Min

Das gestreifte Sweatshirt mit Kapuze hängt ordentlich auf dem Bügel, daneben eine hellgraue Outdoor-Jacke. In den Fächern der schmalen Einbauschränke des Wohnmobils liegen Fahrradhelme, Sportsachen, ordentlich gefaltete Shirts und Pullover. Auch der Kühlschrank ist gut gefüllt: Schwarzwälder Schinken, Würste, Fleischsalat, Schnittkäse. Die beiden Camper in diesem Fahrzeug - das legen die Fotos aus der Ermittlungsakte nahe - hätten noch einige Zeit herumfahren können. Das sind sie aber nicht. Sie sind gestorben in diesem Fahrzeug, am 4. November 2011, kurz nach 12 Uhr. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten drei Stunden zuvor eine Sparkassenfiliale in der thüringischen Kreisstadt Eisenach überfallen, waren danach mit ihrem Wohnmobil in ein ruhiges Neubaugebiet im nahen Ortsteil Stregda gefahren und parkten dort. Als dann gegen 12 Uhr eine Polizeistreife auftaucht, fallen in dem Fahrzeug im Abstand von wenigen Sekunden Schüsse. Dann lodern Flammen aus dem Dach.

Es ist das ebenso spektakuläre wie bis heute rätselhafte Ende der rechten Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). Mit Böhnhardt und Mundlos sterben zwei Neonazis, die fast 14 Jahre lang im Untergrund lebten. Die beiden Männer sollen allein neun Migranten und eine Polizistin erschossen sowie 15 Raubüberfälle ausgeführt haben. Beate Zschäpe, ihre Gefährtin, steht seit fast zweieinhalb Jahren in München vor Gericht, weil sie an den Taten indirekt mitgewirkt haben soll. Sie hatte knapp drei Stunden nach dem Tod ihrer beiden Freunde die gemeinsame Wohnung des Trios in Zwickau in Brand gesetzt und war geflohen, bevor sie sich vier Tage später stellte.

Was tatsächlich geschah an jenem 4. November 2011, das ist bis heute nur unzureichend aufgeklärt. Die offenen Fragen hierzu reihen sich ein in eine stetig wachsende Liste von Widersprüchen und Unstimmigkeiten, die die offizielle Darstellung der Ermittlungsbehörden von den Taten und dem Ende des NSU in Frage stellen. Das sehen auch Abgeordnete aller Bundestagsparteien so. Fraktionsübergreifend gibt es Stimmen, die einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss fordern.

Bereits in der vergangenen Legislaturperiode hatte es einen NSU-Ausschuss gegeben. Ende Januar 2012 war er vom Parlament eingesetzt worden. Seine Aufgabe bestand darin, insbesondere Fehler und Versäumnisse in den Sicherheitsbehörden aufzuklären, die zur Entstehung der Terrorgruppe und ihrer beispiellosen Mordserie beigetragen hatten. Schwerpunkt waren dabei die Vorgänge bis zum Auffliegen des NSU im November 2011. Doch nach anderthalb Jahren eifriger und - für parlamentarische Untersuchungsausschüsse eher ungewöhnlichen - harmonischen Aufklärungsarbeit blieben viele Fragen ungeklärt. Das stellte der Ausschuss auch in seinem am 22. August 2013 vorgelegten, mehr als 1.300 Seiten langen Abschlussbericht fest.

Ursprünglich sollte sich deshalb der Innenausschuss des Bundestages in dieser Legislaturperiode mit dem NSU-Thema weiter befassen. Noch offene Fragen und neue Erkenntnisse, die sich aus den andauernden Ermittlungen der Bundesanwaltschaft, der Arbeit mehrerer Landtagsausschüsse und dem Münchner NSU-Prozess ergeben, wollte der Innenausschuss mit den Verantwortlichen aus den Behörden und Ministerien klären. Das war der Plan - aber er hat nicht funktioniert. Zwar gab es im Innenausschuss etliche Fragerunden zum Thema NSU, selbst eine Sondersitzung wurde einberufen; aber die eingeladenen Vertreter der Ermittlungsbehörden und des Verfassungsschutzes zeigten sich wenig auskunftsbereit.

So scheint die Einsetzung eines neuen NSU-Untersuchungsausschusses unumgänglich - schließlich hat solch ein Gremium umfassende und auch juristische Möglichkeiten zur Sachaufklärung eines komplexen Vorganges, wie es der NSU und seine Vor- wie Nachgeschichte darstellt. Erleichtert würde die Arbeit des neuen Gremiums schließlich auch dadurch, dass die Akten des alten NSU-Ausschusses noch in den Fraktionen liegen, weshalb Beweisanträge bereits frühzeitig vorbereitet werden können. Wenn man so will, kann der neue Ausschuss quasi einen "Warmstart" vollziehen und sofort in die Sachaufklärung einsteigen. Damit wäre er auch in der Lage, ein durchaus ambitioniertes Programm zu schaffen, auch wenn er erst zur Mitte der Legislaturperiode eingesetzt wird.

Zwar liegt noch kein Antrag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor, in dem auch die Aufklärungsziele des Gremiums festgelegt sind. Allerdings hat es schon Abstimmungsrunden zwischen den Fraktionen gegeben, um die inhaltlichen Eckpunkte der Arbeit abzustecken. Denn es ist das erklärte Ziel aller Beteiligten, dass auch dieser NSU-Ausschuss wie schon der erste vor dreieinhalb Jahren von allen Fraktionen des Bundestages getragen wird. Die Abgeordneten wollen gemeinsam ermitteln und aufklären, was auch als Signal verstanden werden soll: Angesichts fremdenfeindlicher Demonstrationen und brennender Flüchtlingsheime soll das Thema Rechtsextremismus und Terrorismus nicht zum Spielball parteipolitischer Auseinandersetzungen geraten. Zwar halten sich die Fraktionen zur Frage des Untersuchungsgegenstandes derzeit noch bedeckt; vermutlich werden die Aktivitäten von Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesanwaltschaft im Mittelpunkt des Aufklärungsinteresses stehen. Denn anders als im ersten NSU-Ausschuss soll jetzt auch die Zeit nach dem Auffliegen der Terrorgruppe 2011 beleuchtet werden. Dabei wird es unter anderem um die Frage gehen, warum die Ermittler vielen Hinweisen und Zeugenaussagen, die auf einen größeren Kreis von Mitwissern und Mittätern hindeuten, nur unzureichend nachgegangen sind. Das bezieht sich etwa auf den Polizistenmord in Heilbronn, die Tatumstände des Mordanschlags in einem Kasseler Internetcafé, die Bombenanschläge in Köln sowie Spuren, die auf eine Verflechtung des Trios mit weiteren rechtsextremen Gruppen, aber auch mit der Organisierten Kriminalität und dem Rockermilieu hindeuten.

Daneben werden auch die Abläufe rund um den 4. November 2011 in Eisenach und Zwickau vermutlich eine zentrale Rolle spielen. Die seit vergangenem Frühjahr arbeitenden Ausschüsse der Landtage in Dresden und Erfurt haben hierzu bereits eine Reihe grober Ermittlungsfehler aufgedeckt, die die offizielle Darstellung der Abläufe an diesem Tag in Frage stellen.

In Erfurt etwa sind Feuerwehrleute befragt worden, die am 4. November 2011 in Eisenach mit dem Löschen des brennenden Wohnmobils beauftragt waren. Von Ermittlern wurden sie bislang nicht befragt, dabei haben diese Zeugen ungewöhnliche Beobachtungen gemacht. So sagten gleich mehrere von ihnen aus, dass die Polizei vor Ort ihnen das Löschen des Feuers im Fahrzeug untersagt hatte, obwohl man nach dem Öffnen der Seitentür die Beine einer im Fahrzeug liegenden Person gesehen habe. Normalerweise gehe Menschenrettung in solchen Situationen vor, sagte einer der Zeugen. Und man habe ja auch nicht wissen können, ob die Person nicht noch am Leben sei. "Aber ein Polizeibeamter sagte uns, wir dürften nicht weiter löschen, um keine Spuren zu verwischen." Er habe daher den Eindruck gehabt, dass die Polizei schon gewusst habe, dass die Personen im Wohnmobil tot sind. Auch der Einsatzchef der Eisenacher Berufsfeuerwehr bestätigte, dass die Polizei früh das Kommando übernommen hatte. Den Feuerwehrleuten sei ein Betreten des Wohnmobils strikt verboten worden. Selbst eine Nachkontrolle, mit der üblicherweise nach möglichen Glutnestern im Inneren des Wohnmobils gesucht wird, sei untersagt worden.

Der Einsatzchef bestätigte auch, dass die Polizei die Speicherkarte einer Kamera beschlagnahmt hatte, mit der die Feuerwehr ihren Einsatz in Eisenach-Stregda dokumentieren wollte. Auf der Speicherkarte hätten sich Aufnahmen aus dem Inneren des Wohnmobils befunden. Erst viel später habe die Polizei die beschlagnahmte Speicherkarte zurückgegeben. "Sie war allerdings leer, die darauf befindlichen Aufnahmen sind gelöscht worden", sagte der Beamte aus. Bis heute sind diese Aufnahmen, die ersten Fotos aus dem Inneren des Wohnmobils, verschwunden. In den Akten finden sich nur die Tatortfotos, die Stunden später nach Abtransport des Fahrzeugs von der Polizei gefertigt worden waren.

Damit können aber auch die Widersprüche nicht geklärt werden, die sich aus den Beobachtungen der Feuerwehrmänner ergeben. So sagten drei von ihnen, die durch die offene Seitentür in das Fahrzeug hineingeschaut hatten, übereinstimmend aus, sie hätten die Beine und Füße einer Person gesehen, die ihrer Beschreibung nach auf dem Rücken gelegen haben muss. Dabei handelte es sich offenbar um die Leiche von Böhnhardt. Auf den erst Stunden später angefertigten Tatortfotos der Polizei hingegen liegt Böhnhardt auf dem Bauch im Gang des Fahrzeugs. Wurde die Leiche also anders hingelegt? Ein vierter Feuerwehrmann, der kurz nach dem Löschen in das Fahrzeug geklettert war, um die später verschwundenen Fotos zu machen, sagte ebenfalls aus, dass die Leiche im Gang auf dem Rücken gelegen habe. Auch gab er vor dem Ausschuss an, keine Waffen im Inneren des Fahrzeugs gesehen zu haben. Auf den späteren Tatortfotos hingegen liegen auf der Sitzbank, dem Tisch und dem Herd eine Maschinenpistole und zwei Pistolen - das hätte er kaum übersehen können.

Neben den Versäumnissen bei den NSU-Ermittlungen würde aber noch einmal das Agieren des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vor und nach dem Auffliegen der Terrorgruppe unter die Lupe zu nehmen sein. Denn wie sich in den letzten zwei Jahren herausstellte, haben Vertreter des BfV dem ersten Ausschuss seinerzeit wesentliche Informationen und Unterlagen vorenthalten. So etwa über ein im Bundesamt angesiedeltes Fachreferat für Rechtsterrorismus. Unklar ist auch noch die Rolle von V-Leuten, die deutsche Sicherheitsbehörden im näheren und weiteren Umfeld des mehr als 13 Jahre im Untergrund lebenden Terrortrios platziert hatten. Nebenklägeranwälte im Münchner NSU-Prozess gehen nach der Enttarnung weiterer Informanten in den letzten zwei Jahren inzwischen von mehr als 40 Spitzeln rund um den NSU aus. Im vergangenen Jahr war zudem bekannt geworden, dass dem BfV schon lange vor 2011 mehrere Hinweise auf die Existenz des NSU zugegangen sind. Der Verfassungsschutz aber bestreitet, von der Terrorgruppe bis zu deren Auffliegen etwas gewusst zu haben.

Genauer zu untersuchen wäre schließlich auch die Rolle der BfV-Gruppe "Lageorientierte Sonderorganisation" (LoS). Die LoS war im Bundesamt kurz nach dem 4. November 2011 gebildet worden. Sie sollte für Bundesanwaltschaft und BKA alle relevanten BfV-Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus zusammenstellen. Offenbar hatte die LoS aber Unterlagen zunächst zurückgehalten, etwa über ausgewählte V-Leute, die dem Bundesamt lange vor 2011 Informationen über das Trio geliefert haben sollen. Zum Stab des LoS gehörte zudem jener BfV-Abteilungsleiter, der nur wenige Tage nach dem Auffliegen des NSU die Akten von mehreren V-Leuten aus dem Umfeld des Trios schreddern ließ. Wenn alles nach Plan läuft, könnte der Bundestag dann Anfang November über die Einsetzung des Gremiums abstimmen - vier Jahre nach dem Auffliegen des NSU.