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BürgerbETEILIGUNG : Die Angst der Gemeinden vor dem Protest

Großprojekte werden heute oft sehr kritisch hinterfragt. Die Verwaltungen müssen umdenken

07.03.2016
2023-08-30T12:29:57.7200Z
4 Min

Sie wird rund 900 Meter lang und bis zu 80 Meter breit: die Bodenbetonplatte des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs, besser bekannt als "Stuttgart 21". Am 26. Januar 2016 begannen die Betonierarbeiten für die Platte. Damit wird etwas in Beton gegossen, wogegen Zehntausende Bürger jahrelang auf die Straße gingen. Am Ende setzten sich zwar die Befürworter des Bauprojekts durch. Doch der Protest brachte Montagsdemos, mehrere Bürgerbegehren, eine Volksabstimmung und die von Heiner Geißler (CDU) moderierte Schlichtung hervor. Indizien dafür, dass der Bürgerwille nicht außer acht gelassen werden darf.

"Stuttgart 21" hatte bundesweit Effekte: "Den Kommunen ist ein gehöriger Schreck in die Glieder gefahren", sagt der Verwaltungswissenschaftler Helmut Klages. Viele Stadtverwaltungen hätten realisiert: Projekte, mit denen sie sich lange beschäftigt haben, können per Bürgerbegehren und Bürgerentscheid "plötzlich gestoppt" werden. Wenn Bürger einen Aufstand machten, "dann kann das am Ende teuer für die Kommune werden", sagt Klages. Der Soziologe aus Heidelberg gilt als Vordenker der kommunalen Bürgerbeteiligung.

Neue Welle Vielen Städten sei nun klar: Wir müssen den Bürgern von uns aus etwas anbieten, um sie frühzeitig zu beteiligen. Dies habe zu einer "neuen Welle der Bürgerbeteiligung" geführt, die seit etwa drei Jahren zu beobachten sei, sagt Klages. Immer mehr Städte und Gemeinden entwerfen "Leitlinien", "Leitfäden" oder "Richtlinien" für eine Bürgerbeteiligung - zunächst informelle Verfahren, die sich aber zunehmend zu geregelten Prozessen entwickeln. In rund 30 Kommunen gibt es dies schon, wie das "Netzwerk Bürgerbeteiligung" ermittelt hat, das sich seit Ende 2011 formiert. Vorreiter war Heidelberg. Inzwischen gehören zu diesen Kommunen Bonn, Darmstadt, Erfurt, Essen, Heilbronn, Jena, Karlsruhe, Kiel, Köln, Landau in der Pfalz, Leipzig, Stuttgart, Wiesbaden und Wolfsburg. "Es gibt aber noch viel mehr Städte, wo Vorüberlegungen im Gange sind", weiß Klages. Dies bedeute einen fundamentalen Wandel: "Früher waren die Bürger meist außen vor, keiner hat wirklich an ihre Interessen gedacht, nur an die von Planern oder Investoren." Zudem werden von vielen Kommunen nun "Vorhabenlisten" online veröffentlicht, um die Bürger frühzeitig und transparent über Planungen und Projekte zu informieren.

Beispiel Darmstadt: Die dort von der Stadtverordnetenversammlung beschlossenen "Leitlinien" umfassen 53 Seiten. Zudem legt die Stadt im Internet halbjährlich eine Vorhabenliste vor - erstmals geschah dies im November 2015. Steckbriefartig werden Projekte aufgeführt, bei denen "ein Gestaltungsspielraum existiert und Bürgerbeteiligung grundsätzlich durchführbar ist", erklärt die Verwaltung. In Darmstadt-Eberstadt wird aktuell etwa die Sanierung des Mühltalbads geplant. Fertigstellungstermin: Juni 2018. Kosten: 3,2 Millionen Euro. Hier ist nach Angaben der Stadt zwar eine formelle, gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbeteiligung nicht vorgesehen. Bei der freiwilligen Bürgerbeteiligung soll es aber die Möglichkeit geben, die Ausstattung des Mehrzweckbeckens, des Kinderbeckens und Attraktionen wie die Rutsche mitzugestalten.

Der Aspekt der "mitgestaltenden, systematischen Bürgerbeteiligung" ist für Klages zentral: Die Bürger müssten bei allen größeren Planungsangelegenheiten informiert werden. Und zwar so frühzeitig, dass noch keine wichtigen Entscheidungen gefasst seien. Die Bürger müssten dabei nicht nur einmal, sondern über den ganzen Prozess beteiligt werden. In Bonn begleitet sogar ein "Beirat Bürgerbeteiligung" aus Bürgerschaft, Politik und Verwaltung die Umsetzung. Die Stadt weiß aber, dass damit noch nicht alles perfekt ist. Man verstehe die Leitlinien als "lernendes System", heißt es dort. Klages betont, die Kommunen seien "noch in der Anlaufphase". Vereinzelte Kritik, die Leitlinien seien ein "zahnloser Tiger", weil die Bürger zwar mitreden, aber nicht mitentscheiden dürften, kontert Klages: Letztendlich könne allein der Gemeinderat verbindlich entscheiden, sonst fehle die rechtliche Grundlage. Ein Rat werde es sich künftig aber zwei Mal überlegen, ob er es sich mit Bürgern und Wählern verderben wolle.

Klages verweist auch darauf, dass die "Leitlinien" konkreter seien als die gesetzlichen Vorgaben für die "formelle" Bürgerbeteiligung an der Bauleitplanung bei Großprojekten. Denn dafür sind in § 3 des Baugesetzbuches nur allgemeine Formulierungen zu finden: "Die Öffentlichkeit ist möglichst frühzeitig über die allgemeinen Ziele und Zwecke der Planung, sich wesentlich unterscheidende Lösungen, die für die Neugestaltung oder Entwicklung eines Gebiets in Betracht kommen, und die voraussichtlichen Auswirkungen der Planung öffentlich zu unterrichten; ihr ist Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung zu geben."

Der Bürgerwille ist in Deutschland ein hohes Gut, absolut gilt er aber nicht: In Berlin setzten Bürger 2014 per Volksentscheid zwar durch, dass das Tempelhofer Feld - der ehemalige Flughafen Tempelhof - nicht bebaut werden darf. Angesichts der vielen Flüchtlinge beschlossen jedoch Senat und Abgeordnetenhaus, dass ein Teil des Areals für mobile Unterkünfte bebaut werden soll - und zwar für eine auf drei Jahre befristete Nutzung. Das per Volksentscheid geschaffene Gesetz, das die Bebauung untersagte, wurde geändert. Die Bürgerinitiative "100 % Tempelhofer Feld" wertete dies als "Frontalangriff gegen die Demokratie". Das Recht auf Mitbestimmung wolle man sich auch künftig "nicht nehmen lassen".

Der Autor ist rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe.