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WAHLRECHT : Präsidialer Vorstoß

Norbert Lammert möchte einer Überdehnung der Abgeordnetenzahl vorbeugen

18.04.2016
2023-08-30T12:29:59.7200Z
8 Min

Mit einem neuerlichen Vorstoß zur Änderung des Wahlrechts noch in der laufenden Legislaturperiode mögen viele nicht mehr gerechnet haben, doch ganz aus blauem Himmel kam die jüngste Initiative von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl nicht: Schon in der ersten Plenarsitzung der laufenden Legislaturperiode hatte er das Parlament dazu aufgerufen, rechtzeitig vor der nächsten Wahl noch einmal "gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen". Dass das Ergebnis der Wahl von 2013 mit vier Überhangmandaten durch die neuen Berechnungsmechanismen zu 29 Ausgleichsmandaten geführt habe, lasse "die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten". Von den Fraktionen wurde Lammerts Mahnung indes nicht aufgegriffen, so dass er nun das Thema mit einem eigenen Reformvorschlag wieder auf die Agenda hob.

Hintergrund ist die 2013 nach jahrelangem Hin und Her zwischen dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht verabschiedete Wahlrechtsreform. Dabei galt es unter anderem - wie von den Karlsruher Richtern bereits 2008 gefordert -, das "negative Stimmgewicht" zu eliminieren, bei dem mehr Stimmen für eine Partei dieser weniger Mandate bescheren. Mit diesem paradoxen Effekt war bei früheren Wahlen im Zusammenhang mit Überhangmandaten zu rechnen, die einer Partei zufallen, wenn sie mehr Direktmandate erhält als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Als das Verfassungsgericht 2012 die im Vorjahr von Schwarz-Gelb durchgesetzte Wahlrechtsreform als verfassungswidrig kippte, beschränkte es die zulässige Zahl der Überhangmandate ohne Ausgleich auf etwa 15.

Dieser Spielraum wurde bei der Reform 2013 nicht in Anspruch genommen, sondern ein vollständiger Ausgleich der Überhangmandate festgeschrieben. Dabei werden so viele zusätzliche Sitze an die Fraktionen verteilt, dass deren Stärke wieder dem Zweitstimmenergebnis entsprechen. Im Ergebnis ist zwar sichergestellt, wie Lammert in seinem vergangene Woche den Fraktionsspitzen und der Öffentlichkeit vorgestelltem Vorschlag konstatiert, "dass der Bundestag unter Wahrung des Erststimmenergebnisses proportional nach dem Zweitstimmenergebnis zusammengesetzt ist", doch ist damit auch ein "erhebliches Vergrößerungsrisiko" verbunden. Schon heute liegt die Zahl der Bundestagsabgeordneten mit aktuell 630 klar über der gesetzlich festgelegten Sollgröße von 598. Nach derzeitigem Wahlrecht hätte es bei der Wahl 2009 nicht 622, sondern 671 Sitze gegeben; Modellrechnungen lassen für künftige Parlamente weit höhere Zahlen denkbar erscheinen.

Lammert stört daran nicht nur, dass die Wähler bei der Stimmabgabe nicht wissen können, über wie viele Mandate sie eigentlich entscheiden; ihn treibt auch die Sorge um, dass die Zahl der Bundestagsmitglieder die Kapazitätsgrenze sprengt. Schließlich wüchsen mit der Zahl der Mandate "weder die Funktionsfähigkeit des Parlaments noch die dazu notwendigen Arbeitsbedingungen der Abgeordneten", gibt er zu bedenken.

Höchstsitzzahl Der Bundestagspräsident schlägt deshalb vor, eine Höchstzahl von Mandaten festzuschreiben, ab der darüber hinaus gehende Überhangmandate zwar bestehen bleiben, aber nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden sollen. Eine solche Grenze könnte nach seinen Vorstellungen etwa bei 630 Sitzen liegen und damit nicht nur der derzeitigen Abgeordnetenwahl entsprechen, sondern die Sollgröße von 598 um fünf Prozent übertreffen und damit um die Größenordnung, die auch zur Überwindung der Sperrklausel und zur Bildung einer Fraktion erforderlich ist. Denkbar sind für Lammert aber auch Höchstsitzzahlen von 620, 640 oder 650, ab denen dann direkt gewonnene (Überhang-)Mandate erhalten blieben, ohne zusätzliche Ausgleichsmandate zu bewirken.

Bis zu dieser Deckelungsgrenze blieben die Vorteile des derzeitigen Wahlrechts erhalten, während es durch darüber liegende Überhangmandate zu Abweichungen vom Zweitstimmenergebnis kommen und auch der Effekt des negativen Stimmgewichts wieder möglich würde. Für Lammert stellt sich daher die Frage, ob diese Nachteile nicht in Kauf genommen werden sollten, um so die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Eine "Lösung, die restlos aufgeht", gebe es nicht.

Er plädiert dafür, im Grundgesetz festzuschreiben, dass die Bundestagsabgeordneten "nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt" werden und das Nähere ein Bundesgesetz bestimmt, "in dem eine Höchstsitzzahl und eine Sperrklausel festgelegt werden". Sähe die Verfassung die Möglichkeit einer Deckelung vor, lautet seine Argumentation, müsse das Verfassungsgericht sie "bei der Bewertung der Eingriffe in die herkömmlichen Wahlrechtsgrundsätze (...) als zusätzlichen Maßstab berücksichtigen".

Bei der Opposition traf Lammerts Vorstoß auf Ablehnung. Für Die Linke urteilte ihr Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch, die Union wäre bei einer Umsetzung des Präsidenten-Vorschlags "die begünstigte Partei". Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt befand, für alle anderen Parteien "bedeutet das unterschiedlich große Verluste". Für den sozialdemokratischen Koalitionspartner der Union wiederum äußerte sich ihr Fraktionschef Thomas Oppermann "skeptisch, ob die Vorschläge noch in dieser Legislatur umgesetzt werden können".

Wahlkreis-Reform Derweil verabschiedete der Bundestag am Donnerstag gegen die Stimmen der Linksfraktion einen Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Grünen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (18/7873). Danach steigt in Bayern aufgrund eines stetigen Bevölkerungszuwachses bei der nächsten Bundestagswahl die Zahl der Wahlkreise um einen, während Thüringen mit seiner rückläufigen Bevölkerungsentwicklung einen Wahlkreis weniger als bisher haben wird. Auch werden in einer Reihe von Ländern Wahlkreise neu zugeschnitten.

Mit einem neuerlichen Vorstoß zur Änderung des Wahlrechts noch in der laufenden Legislaturperiode mögen viele nicht mehr gerechnet haben, doch ganz aus blauem Himmel kam die jüngste Initiative von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl nicht: Schon in der ersten Plenarsitzung der laufenden Legislaturperiode hatte er das Parlament dazu aufgerufen, rechtzeitig vor der nächsten Wahl noch einmal "gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen". Dass das Ergebnis der Wahl von 2013 mit vier Überhangmandaten durch die neuen Berechnungsmechanismen zu 29 Ausgleichsmandaten geführt habe, lasse "die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten". Von den Fraktionen wurde Lammerts Mahnung indes nicht aufgegriffen, so dass er nun das Thema mit einem eigenen Reformvorschlag wieder auf die Agenda hob.

Hintergrund ist die 2013 nach jahrelangem Hin und Her zwischen dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht verabschiedete Wahlrechtsreform. Dabei galt es unter anderem - wie von den Karlsruher Richtern bereits 2008 gefordert -, das "negative Stimmgewicht" zu eliminieren, bei dem mehr Stimmen für eine Partei dieser weniger Mandate bescheren. Mit diesem paradoxen Effekt war bei früheren Wahlen im Zusammenhang mit Überhangmandaten zu rechnen, die einer Partei zufallen, wenn sie mehr Direktmandate erhält als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Als das Verfassungsgericht 2012 die im Vorjahr von Schwarz-Gelb durchgesetzte Wahlrechtsreform als verfassungswidrig kippte, beschränkte es die zulässige Zahl der Überhangmandate ohne Ausgleich auf etwa 15.

Dieser Spielraum wurde bei der Reform 2013 nicht in Anspruch genommen, sondern ein vollständiger Ausgleich der Überhangmandate festgeschrieben. Dabei werden so viele zusätzliche Sitze an die Fraktionen verteilt, dass deren Stärke wieder dem Zweitstimmenergebnis entsprechen. Im Ergebnis ist zwar sichergestellt, wie Lammert in seinem vergangene Woche den Fraktionsspitzen und der Öffentlichkeit vorgestelltem Vorschlag konstatiert, "dass der Bundestag unter Wahrung des Erststimmenergebnisses proportional nach dem Zweitstimmenergebnis zusammengesetzt ist", doch ist damit auch ein "erhebliches Vergrößerungsrisiko" verbunden. Schon heute liegt die Zahl der Bundestagsabgeordneten mit aktuell 630 klar über der gesetzlich festgelegten Sollgröße von 598. Nach derzeitigem Wahlrecht hätte es bei der Wahl 2009 nicht 622, sondern 671 Sitze gegeben; Modellrechnungen lassen für künftige Parlamente weit höhere Zahlen denkbar erscheinen.

Lammert stört daran nicht nur, dass die Wähler bei der Stimmabgabe nicht wissen können, über wie viele Mandate sie eigentlich entscheiden; ihn treibt auch die Sorge um, dass die Zahl der Bundestagsmitglieder die Kapazitätsgrenze sprengt. Schließlich wüchsen mit der Zahl der Mandate "weder die Funktionsfähigkeit des Parlaments noch die dazu notwendigen Arbeitsbedingungen der Abgeordneten", gibt er zu bedenken.

Höchstsitzzahl Der Bundestagspräsident schlägt deshalb vor, eine Höchstzahl von Mandaten festzuschreiben, ab der darüber hinaus gehende Überhangmandate zwar bestehen bleiben, aber nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden sollen. Eine solche Grenze könnte nach seinen Vorstellungen etwa bei 630 Sitzen liegen und damit nicht nur der derzeitigen Abgeordnetenwahl entsprechen, sondern die Sollgröße von 598 um fünf Prozent übertreffen und damit um die Größenordnung, die auch zur Überwindung der Sperrklausel und zur Bildung einer Fraktion erforderlich ist. Denkbar sind für Lammert aber auch Höchstsitzzahlen von 620, 640 oder 650, ab denen dann direkt gewonnene (Überhang-)Mandate erhalten blieben, ohne zusätzliche Ausgleichsmandate zu bewirken.

Bis zu dieser Deckelungsgrenze blieben die Vorteile des derzeitigen Wahlrechts erhalten, während es durch darüber liegende Überhangmandate zu Abweichungen vom Zweitstimmenergebnis kommen und auch der Effekt des negativen Stimmgewichts wieder möglich würde. Für Lammert stellt sich daher die Frage, ob diese Nachteile nicht in Kauf genommen werden sollten, um so die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Eine "Lösung, die restlos aufgeht", gebe es nicht.

Er plädiert dafür, im Grundgesetz festzuschreiben, dass die Bundestagsabgeordneten "nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt" werden und das Nähere ein Bundesgesetz bestimmt, "in dem eine Höchstsitzzahl und eine Sperrklausel festgelegt werden". Sähe die Verfassung die Möglichkeit einer Deckelung vor, lautet seine Argumentation, müsse das Verfassungsgericht sie "bei der Bewertung der Eingriffe in die herkömmlichen Wahlrechtsgrundsätze (...) als zusätzlichen Maßstab berücksichtigen".

Bei der Opposition traf Lammerts Vorstoß auf Ablehnung. Für Die Linke urteilte ihr Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch, die Union wäre bei einer Umsetzung des Präsidenten-Vorschlags "die begünstigte Partei". Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt befand, für alle anderen Parteien "bedeutet das unterschiedlich große Verluste". Für den sozialdemokratischen Koalitionspartner der Union wiederum äußerte sich ihr Fraktionschef Thomas Oppermann "skeptisch, ob die Vorschläge noch in dieser Legislatur umgesetzt werden können".

Wahlkreis-Reform Derweil verabschiedete der Bundestag am Donnerstag gegen die Stimmen der Linksfraktion einen Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und Grünen zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (18/7873). Danach steigt in Bayern aufgrund eines stetigen Bevölkerungszuwachses bei der nächsten Bundestagswahl die Zahl der Wahlkreise um einen, während Thüringen mit seiner rückläufigen Bevölkerungsentwicklung einen Wahlkreis weniger als bisher haben wird. Auch werden in einer Reihe von Ländern Wahlkreise neu zugeschnitten.