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recht : Wann ist ein Nein ein Nein?

Kritiker bemängeln Schutzlücken und lebensferne Annahmen im Sexualstraf

02.05.2016
2023-08-30T12:30:00.7200Z
7 Min

Es sind dramatische und drastische Szenen, die der "Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe" (BFF) in seiner Fallsammlung schildert: Eine schwangere Frau wird von ihrem Partner zum Sex gedrängt. Sie will aber nicht und sagt ihm das auch. Der Mann zieht sie von der Couch und schubst sie ins Schlafzimmer. Er war früher schon aggressiv und auch gegenüber ihrer Katze gewalttätig geworden. Sie fürchtet um ihr ungeborenes Kind. Im Schlafzimmer fordert der Partner sie auf, sich zu entkleiden. Sie tut das. Daraufhin kommt es zum Geschlechtsverkehr, den die Frau über sich ergehen lässt. Sie wehrt sich nicht körperlich. Aber sie fleht und schreit ihn an, weist darauf hin, dass sie Schmerzen hat, fordert, dass er aufhören solle. Erfolglos. Offenbar zeigte die Frau die Tat später an, doch zu einer Anklage kommt es gar nicht erst. Der Staatsanwalt stellt das Verfahren ein. Der BFF zitiert aus dem Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft. Demnach habe es sich nicht um eine Vergewaltigung im Sinne des Paragraphen 177 Strafgesetzbuch (StGB) gehandelt. Weder habe der Mann direkt zur Vollziehung der sexuellen Handlung Gewalt angewandt, noch damit gedroht. Auch sei keine schutzlose Lage im Sinne des Paragraphen erkennbar.

Aus Sicht der Kritiker steht dieser Fall exemplarisch für das, was falsch läuft im deutschen Sexualstrafrecht. In der Fallsammlung von 2014 analysiert der BFF 107 solche Fälle zwischen 2002 und 2012, die entweder eingestellt wurden oder bei denen am Ende ein Freispruch stand. Die Erhebung sei zwar nicht repräsentativ, schränkt der Verband ein, aber von hoher Aussagekraft: Ein klares Nein des Opfers zu einer sexuellen Handlung bedeute im juristischen Sinne eben nicht immer Nein - und habe folglich keine strafrechtlichen Konsequenzen. Neben dem BFF bemängelt beispielsweise auch "Terre Des Femmes" und der "Deutsche Juristinnenbund" schon länger, dass es klaffende Schutzlücken im deutschen Strafrecht gebe. Das heißt: Strafwürdiges Verhalten, das nicht bestraft werden kann, weil es schlicht nicht strafbar ist. Ein Problem, das aus Sicht der Verbände nur mit einer grundlegenden Reform gelöst werden kann.

Bis 1997 war im deutschen Strafrecht tatsächlich sehr klar geregelt, dass nur das reine Äußern eines Neins des Opfers zu einer sexuellen Handlung nicht ausreicht, um die Strafbarkeit zu begründen. Eine klassische sexuelle Nötigung setzte voraus, dass der Täter eines von zwei "Nötigungsmitteln" einsetzte, um den entgegenstehenden Willen des Opfers zu überwinden und es dazu zu zwingen, eine Handlung vorzunehmen oder zu dulden: direkte Gewalt oder die Drohung damit. Die Reform von 1997 fügte dem Paragraphen ein weiteres Merkmal hinzu: das Ausnutzen einer schutzlosen Lage, eine Anwendung von Gewalt oder eine direkte Drohung sind dabei nicht mehr nötig. Ebenfalls bis dahin galt beispielsweise auch, dass eine Ehefrau gar nicht Nein sagen konnte, ganz gleich, ob sie sich wehrte oder nicht. Der Paragraph galt nur für außereheliche Nötigung und Vergewaltigung.

Die Strafbarkeit von sexuellen Übergriffen, die nicht unter die Missbrauchstatbestände fallen, vor allem am Einsatz dieser Nötigungsmittel festzumachen, ist aus Sicht der Kritiker lebensfern und hat wenig mit der Wirklichkeit sexueller Übergriffe zu tun. Denn es werde von den Opfern erwartet, Widerstand zu leisten. Die Strafbarkeit hänge eben nicht vom Verhalten des Täters ab, sondern von dem des Opfers. So führt der BFF etwa in der Fallsammlung Verfahren an, die wegen vermeintlich mangelnden Widerstands von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden sind. In einem Fall etwa habe eine Frau mit ihren Armen versucht, den Täter von sich "wegzudeuten". Der Mann habe die Abwehr zwar erkannt. Unklar sei aber gewesen, ob dieser Widerstand überhaupt mit Gewalt überwunden werden musste, heißt es in der Fallbeschreibung.

Ein Grund für vermeintlich mangelnden Widerstand sei, erklärt der BFF, dass die Opfer die Täter meist kennen, um die Bedrohlichkeit des Angreifers wüssten und Widerstand zwecklos erscheine. Zudem wird auch die Annahme kritisch gesehen, dass ein Opfer überhaupt Widerstand leisten kann. Der BFF verweist auf Fälle, in denen der Angriff überraschend kam. Diese Überraschung habe häufig auch zu einer "Schockstarre" geführt. Beginne das Opfer sich dann doch zu wehren und der Täter lasse von ihm ab, dann seien die Handlungen davor straffrei. Denn es werde angenommen, dass das Opfer im Zweifel auch früher schon hätte Widerstand leisten können. Unter Überraschungstaten fallen auch - Stichwort: Kölner Domplatte - plötzliche Griffe in den Intimbereich oder an die Brust. Auch sie, so kritisiert der Verband, werden meist als nicht strafbar oder unerheblich angesehen.

Einen Teil dieser Lücken sollte eigentlich die Reform von 1997 schließen. Mit dem Tatbestandsmerkmal der schutzlosen Lage sollte es gegebenenfalls nicht länger darauf ankommen, ob der Täter Gewalt oder eine Drohung als Nötigungsmittel einsetzt, um sein Ziel zu erreichen. Der Zwang entsteht hier durch die Schutzlosigkeit des Opfers, um die der Täter weiß. In der Gesetzesbegründung (13/7324) wurde damals etwa als Beispiel angeführt, dass der Täter sein Opfer an einen Ort bringt, wo keine Hilfe zu erwarten ist, der Täter auch körperlich überlegen sei und Widerstand daher sinnlos erscheine. Doch nach Ansicht der Kritiker ist dieses Merkmal fast unerfüllbar, weil es juristisch zu eng ausgelegt wird. Der BFF führe etwa Fälle an, die an der objektiven Schutzlosigkeit gescheitert seien. Es reiche etwa nicht aus, wenn eine Frau denke, sie könne nicht aus einer Wohnung fliehen. Maßgebend sei, ob dies objektiv der Fall war, also ob zum Beispiel der Täter den Schlüssel versteckt habe. Auch wenn es sich um eine objektiv schutzlose Lage handele, etwa wenn sich die Tat an einem abgelegenen Ort ereigne, müsse zudem nachgewiesen werden, dass der Täter davon ausgehe, dass das Opfer aufgrund der schutzlosen Lage vom Widerstand absehe, kritisiert der BFF.

Novellierung Die Kritik gerade an dem Merkmal der schutzlosen Lage greift die Regierung nun mit ihrem Entwurf auf (siehe auch Seite 1). Der Entwurf der Regierung sieht vor, die schutzlose Lage aus dem Nötigungsparagraphen herauszulösen und in den neu gefassten Missbrauchsparagraphen 179 StGB zu integrieren. Künftig soll es vor allem darauf ankommen, ob das Opfer subjektiv eine schutzlose Lage annahm und ein empfindliches Übel fürchtete. Mit letzterem wird die Kritik aufgegriffen, dass zum Beispiel die Furcht vor einem Jobverlust nur als einfache Nötigung aufgefasst wurde. Auch Überraschungstaten werden nun als Missbrauchstat klassifiziert. Laut Gesetzesbegründung soll auch im Fall von Schockstarre der Tatbestand erfüllt sein.

Für die Verbände wie den BFF oder den Juristinnenbund reicht das nicht. Es sei aber "ein erster Schritt in die richtige Richtung", wie es in einem offenen Brief mehrerer Organisationen heißt. Aber noch immer käme es bei der Be- und Verurteilung maßgeblich auf das Verhalten des Opfers und nicht des Täters an. Es brauche einen "grundlegenden Paradigmenwechsel": "Die Zeit ist reif für eine große Reform des Sexualstrafrechts", heißt es in dem Brief an die Abgeordneten des Bundestages und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Jede sexuelle Handlung gegen den Willen des Betroffenen müsse unter Strafe gestellt werden. Das sei auch nötig, um die Istanbul-Konvention (siehe Stichwort) zu ratifizieren.

Gänzlich unverschlossen ist man gegenüber diesen Ideen im Justizministerium offenbar nicht. Der Vorschlag wird von einer Expertenkommission geprüft. Diese war schon im vergangenen Jahr eingesetzt worden und nimmt sich den gesamten 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches (Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) vor. Ergebnisse sollen im Herbst dieses Jahres vorgelegt werden.

»Schutzlücken-Kampagne « Nun herrscht in juristischen Fragen aber selten Einigkeit und das Sexualstrafrecht bildet da keine Ausnahme. Das gilt auch für Beispielfälle, wo sich die Geister schon an der Fallbeschreibung scheiden können. Einer der prominentesten Kritiker der diskutierten Reformbestrebungen ist Thomas Fischer, Vorsitzender Richter des Zweiten Strafsenats am Bundesgerichtshof. Schon bei einer Anhörung im Bundestag im Januar vergangenen Jahres zur Istanbul-Konvention sowie in Beiträgen für seine Kolumne "Fischer im Recht" auf Zeit-Online widersprach der Bundesrichter der Kritik an der Rechtsprechung und Gesetzeslage. Er sieht vielmehr eine "Schutzlücken-Kampagne" im Gange. Es sei weder rechtspolitisch noch in Hinblick auf die Istanbul-Konvention notwendig, die Gesetze zu ändern, sagte Fischer bei der Anhörung. Die Gesetzeslage reiche aus, um alle Fälle, in denen Täter nötigenden Zwang einsetzen, zu verfolgen. Das schließe aber nicht aus, dass ein Gericht mal ein Fehlurteil fälle oder ein Staatsanwalt einen irrigen Einstellungsbescheid fertige. Es sei aber zweifelhaft, ob eine reine Lehre des "Nein heißt Nein", eine Strafnorm, die nur auf den "entgegenstellenden Willen" abstellt, überhaupt das Schutzniveau für die Opfer erhöhe. Denn dann könnten Prozesse in "Gutachter-Schlachten" ausarten, um die jeweilige Glaubwürdigkeit von vermeintlichen Tätern beziehungsweise Opfern nachzuweisen - mit entsprechenden Möglichkeiten für Fehlurteile, warnte Fischer.

Ein Grund für die Probleme bei der Beweiserhebung in Strafverfahren zu Sexualdelikten ist, dass die Taten häufig im persönlichen Nahbereich der Opfer geschehen. Oft steht Aussage gegen Aussage. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) führt für 2014 unter dem Titel "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses", umfasst sind davon sexuelle Nötigungen beziehungsweise Vergewaltigungen und Missbrauchstatbestände, 12.742 Opfer, davon waren 93 Prozent weiblich. Bei knapp 62 Prozent der Opfer galt ein Familienangehöriger, Partner oder näherer Bekannter als Tatverdächtiger. Und das sind nur die offiziellen Zahlen, das Dunkelfeld ist wohl deutlich größer. Laut einer repräsentativen Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens aus dem Jahr 2014 zeigten 84,5 Prozent der befragten Frauen, die mit Gewalt oder Drohung zu einer sexuellen Handlung genötigt wurden, diese nicht an.

Bei den Fällen, die laut der PKS angezeigt werden, liegt die Aufklärungsquote mit 81 Prozent vergleichsweise hoch. Das heißt aber nur, dass die Polizei eine hinreichend tatverdächtige Person ermittelt hat, was etwa bei Beziehungstaten nicht die größte kriminalistische Herausforderung ist. Ob tatsächlich eine Anklage erhoben wird oder es gar zu einer Verurteilung kommt, ist eine andere Sache. Der BFF kritisiert, dass zwar seit den 1990er Jahren die Zahl der Anzeigen in Deutschland gestiegen sei, aber nicht die Zahl der Anklagen. Die meisten Verfahren würden schlicht eingestellt. Auch die Verurteilungsquote sei sehr gering. Bezogen auf die Zahl der Anzeigen habe sie 2012 bei nur 8,4 Prozent legen, führt der BFF aus. Ob daran die nun diskutierten Änderungen etwas ändern werden, bleibt allerdings abzuwarten. Sören Christian Reimer