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Brasilien : Bleierne Symbolik

Der Gastgeber von Olympia 2016 leidet unter politischem Chaos und wirtschaftlichem Desaster

11.07.2016
2023-08-30T12:30:04.7200Z
8 Min

Am Abend des 12. Mai 2016 tritt Michel Temer an das Rednerpult im brasilianischen Präsidentenpalast Planalto. Wenige Stunden zuvor war die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von ihrem Amt suspendiert worden. Nun ist Temer, vormals ihr Vize, Interimspräsident des Landes. Er will seine Antrittsrede halten und ein Aufbruchssignal senden: Brasilien soll endlich einen Weg aus dem politischen Chaos und ökonomischen Desaster der vergangenen Jahre finden. Seine Regierung bezeichnet Temer als "Regierung der nationalen Rettung".

Noch bevor er seine Rede beginnt, stellen sich hinter dem 75-Jährigen die 23 frisch von ihm berufenen Minister auf. Beim Blick auf die Riege fällt schnell auf: Es ist weder eine Frau dabei noch ein Schwarzer. Stattdessen sieht man sieben Politiker, die verdächtigt werden, sich im Korruptionsskandal um den Erdölkonzern Petrobras bereichert zu haben. Einer hat als Bildungsminister seines Bundesstaats Gelder abgezweigt, die für Schulessen bestimmt waren. Der neue Agrarminister ist einer der größten Sojaproduzenten und Regenwaldzerstörer Brasiliens. Der neue Justizminister ist als Hardliner berüchtigt und rechtfertigt Polizeieinsätze gegen Schüler, die für bessere Bildung streiken. Der neue Außenminister, so stellt sich heraus, weiß nicht, was die NSA ist, der US-Geheimdienst, der die brasilianische Regierung ausspionierte. Zwei Minister gehören radikalen evangelikalen Sekten an, drei sind Sprosse sogenannter Oberster: Politikdynastien, die große Regionen quasi feudal beherrschen.

Personifizierte Probleme Temers Rede, in der er an die Brasilianer appelliert, die Probleme des Landes gemeinsam zu bewältigen, bekommt vor diesem Hintergrund etwas Falsches. Denn personifiziert seine Mannschaft nicht genau die Probleme? Korruption, Vetternwirtschaft, Partikularinteressen, Inkompetenz?

Der negative Eindruck verfestigt sich, als Temer ankündigt, seine Regierung stehe unter dem Motto "Ordnung und Fortschritt". Es entstammt dem Positivismus, einer in Brasilien autoritär ausgeformten Doktrin aus dem 19. Jahrhundert. "Sie bildete die ideologische Basis für den Militärputsch von 1964", kritisiert der Schriftsteller Luiz Ruffato nach der Rede.

So erdrückt eine bleierne Symbolik das Signal zum Aufbruch, das man sich erhofft haben mag. Statt von Neuanfang ist von Restauration die Rede. Temers Kritiker fühlen sich bestätigt. "Temer ist nicht die Lösung der Krise, sondern die Krise selbst", schreibt der Kolumnist Vladimir Safatle in der Zeitung "Folha de S. Paulo". Unter dem Vorwand, die Korruption zu beenden, habe er eine Bande Verbrecher in die Regierung geholt.

Es ist der Tenor, den Brasiliens Linke anstimmt und dessen Grundton bis heute gleich geblieben ist: Das Absetzungsverfahren gegen Dilma Rousseff ist ein Putsch. Diesen Vorwurf halten die Gegner Rousseffs für lächerlich.

Zwei Narrative prallen in Brasilien aufeinander. Da ist einmal die konservative Lesart, der zufolge die linke Arbeiterpartei (PT) 2002 die Macht gekapert und das Land ausgeplündert habe. Sie habe ein gigantisches System aus Korruption errichtet, in dessen Zentrum der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras stehe. An der Macht habe sich die PT nur halten können, weil sie die Masse der Armen mit Sozialprogrammen alimentiere. Die Chefs der kriminellen Vereinigung seien Ex-Präsident Lula da Silva und seine Nachfolgerin Rousseff. Letztere habe Brasilien an den Rand des wirtschaftlichen Kollaps' geführt und mit Fiskaltricks gegen das Haushaltsgesetz verstoßen. Deswegen sei ihre Absetzung notwendig.

Im Kontrast dazu steht die linke Erzählung, der zufolge die Arbeiterpartei das Land mit Sozialprogrammen gerechter gemacht habe. Sie habe neue Chancen für Arme und Schwarze geschaffen und Millionen Brasilianern den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht. Aber nun, in der Wirtschaftskrise, in der es weniger zu verteilen gebe, zeige die alte Elite ihr wahres Gesicht. Sie wolle zurück an die Fetttöpfe. Ihr applaudiere die weiße ressentimentgeladene Oberschicht, die es nicht ertragen könne, dass ihre Hausbediensteten nun auch im Shoppingcenter einkauften. Deswegen sei Rousseff unter fadenscheinigen Gründen suspendiert und ihr intriganter Vize von der opportunistischen Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) installiert worden. Kein Brasilianer habe je für dessen Politik votiert. Außerdem stecke Temer ebenso tief im Korruptionssumpf wie alle anderen auch.

So widersprüchlich die beiden Lesarten sind, so umstritten ist auch der Absetzungsprozess selbst. Lenio Streck, Professor an der Brasilianischen Akademie für Verfassungsrecht, glaubt, dass das Verfahren nicht juristischen Kriterien entspreche, sondern einzig politischem Kalkül folge. "Dadurch", sagt er, "wird die brasilianische Demokratie schwer beschädigt." Ihm widerspricht der Historiker Boris Fausto, der keine Willkür erkennen kann: "Der Impeachmentprozess verläuft verfassungskonform."

Dilma Rousseff wurde am 12. Mai vom brasilianischen Senat mit 55 zu 22 Stimmen vom Präsidentenamt suspendiert. Der Vorwurf: Sie soll den Haushalt manipuliert haben, indem sie die Staatsbanken anwies, Sozialhilfe und andere Gelder auszuzahlen, ohne ihnen die Beträge überweisen zu können. So habe sie vor den Wahlen 2014 den Haushalt geschönt.

Derzeit hören die 81 Senatoren, wie in einem Gerichtsverfahren, weitere Argumente für und wider das Impeachment. Ende August - kurz nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro - werden sie erneut abstimmen. Sollten dann Zwei Drittel der Meinung sein, dass Rousseff durch die Tricks ihren Amtseid verletzt habe, wäre sie endgültig des Amtes enthoben und Michel Temer der 37. Präsident Brasiliens.

In der Rezession Als entscheidend für den Ausgang des zweiten Votums gilt, ob es Michel Temer gelingen wird, die wirtschaftliche Lage Brasiliens zu verbessern. Kaum ein zweifelnder Senator dürfte dann für Rousseffs Rückkehr stimmen. Unter ihr rutschte Brasilien nach Jahren stabilen Wachstums in die Rezession. Für 2016 prognostiziert der Internationale Währungsfonds einen weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,8 Prozent. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit laut Statistikinstitut IBGE bei 11,2 Prozent: das sind mehr als elf Millionen Erwerbslose. Die Inflation betrug über die vergangenen zwölf Monate neun Prozent.

Dazu kommen Meldungen wie die Verhängung des Finanznotstands durch den Bundesstaat Rio de Janeiro. Seit Monaten haben Polizisten, Lehrer und Krankenhausangestellte keine oder unvollständige Löhne erhalten. Zuletzt fehlte in Rio sogar das Geld für die Armenspeisung. Um wenigstens die Polizisten bezahlen zu können, die damit drohen, dass Rio während der Spiele zur "Hölle" werden könne, hat Präsident Temer Nothilfen versprochen.

Die brasilianische Krise begann um das Jahr 2012. Auslöser waren die einbrechenden Weltmarktpreise für Brasiliens wichtigste Exportprodukte: Öl, Eisenerz, Soja. Rousseff verschärfte die Krise durch eklatante Fehlentscheidungen. Sie hielt die Energiepreise künstlich niedrig und bescherte den Energieunternehmen so enorme Verluste, dass diese nicht mehr investierten. Dann wies sie den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras an, sein Benzin in Brasilien unter Preis zu verkaufen. Es führte dazu, dass Petrobras 2012 erstmals seit 13 Jahren wieder Verluste schrieb. Heute ist Petrobras das am höchsten verschuldete Unternehmen der Welt, mit Ausständen um 130 Milliarden Dollar.

Petrobras wurde zudem enorm beschädigt, weil es von Politikern aller Parteien als Selbstbedienungsladen genutzt wurde. Baufirmen und Zulieferer, die mit Petrobras Geschäfte machten, zahlten festgelegte Prozentsätze der Vertragssummen an Politiker und Funktionäre. Auch Temers Regierung ist tief in den Skandal verwickelt. Drei seiner Minister mussten bereits gehen, weil Gesprächsmitschnitte auftauchten, in denen sie besprechen, wie man die Ermittlungen stoppen könne. Sie sind sich einig, dass Präsidentin Rousseff eine Gefahr sei, weil sie die Staatsanwälte frei agieren lasse.

Auch Temers Name ist im Zusammenhang mit Korruptionsermittlungen gefallen, ebenso der von Senatspräsident Renan Calheiros. Unterdessen ist Parlamentspräsident Eduardo Cunha - enger Verbündeter Temers und Antreiber des Impeachments - wegen Korruption und Falschaussage zurückgetreten. Und gegen Temers Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus wird wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und versuchten Mordes ermittelt.

Doch daran scheint sich die weiße Oberschicht, die gegen Rousseff noch wütend auf die Straße strömte, nicht mehr zu stören. Und Michel Temer hat richtig erkannt, dass seine Regierung mit der Wirtschaft steht und fällt. Das Thema Korruption ist dabei völlig in den Hintergrund gerückt. "Die ökonomische Krise war entscheidend für die Entfernung Rousseffs", erläutert Nelson Marconi, Ökonom an der Getúlio Vargas Universität in São Paulo. "Die Anklage wegen der Fiskaltricks war nur ein Vorwand, um sie loszuwerden."

Sparprogramm angekündigt In der Wirtschaft genießt Temer bisher großes Wohlwollen. Zum Wirtschaftsminister machte er Henrique Meirelles, der von 2003 bis 2011 Präsident der Zentralbank war. Die Personalie wurde in Wirtschaftskreisen regelrecht gefeiert. Unter dem Eindruck des Haushaltslochs von umgerechnet 45 Milliarden Euro kündigte Meirelles ein hartes Sparprogramm an. Brasilien, dessen Kreditwürdigkeit zuletzt auf Ramschniveau herabgestuft worden war, müsse das Vertrauen der Investoren zurückgewinnen.

Bei zivilgesellschaftlichen Organisationen hat die Ankündigung Befürchtungen vor Einschnitten bei Sozialprogrammen sowie Gesundheit und Bildung ausgelöst, die ohnehin unterfinanziert sind. Man erwartet aber, dass Temer mögliche Grausamkeiten erst nach Rousseffs Amtsenthebung begeht. Dazu gehören auch die Reform des Rentensystems sowie die Privatisierung von Staatsbetrieben. Eine Reform des Steuersystems - die Vereinten Nationen halten es für eines der ungerechtesten der Welt, weil es die Reichen extrem bevorteile - steht nicht auf der Agenda.

Ob Temers Maßnahmen die strukturellen Probleme Brasiliens lösen können, ist zweifelhaft. Der Ökonom Antonio Corrêa de Lacerda von der Päpstlich Katholischen Universität sagt, dass der Markt sich etwas vormache, wenn er meint, dass Rousseff das Problem gewesen sei. Tatsächlich seien die Abhängigkeit von ausländischem Kapital, die systematische Korruption sowie die hohen Zinsen viel gravierender. Letztere leiteten Kapital aus dem produktiven Sektor in die Finanzmärkte um.

Miserabler Zustand Zu den grundlegenden Problemen gehört auch, dass sich die öffentliche Infrastruktur (Bildung, Gesundheit, Transport, Sicherheit) in teils miserablem Zustand befindet. Obwohl die Brasilianer durchschnittlich 151 Tage im Jahr arbeiten, um ihre Steuern zu bezahlen (Deutschland: 139 Tage), erhalten sie nur wenig zurück. Von 30 Industrienationen belegt das Land laut Brasilianischem Institut für Abgabenplanung den letzten Platz, wenn es um die Nutzung der Steuergelder für Belange der Allgemeinheit geht.

In der großen deutschen Wirtschaftsgemeinde zeigt man sich unterdessen verhalten optimistisch. Wolfram Anders, Präsident der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer in São Paulo, sagt, dass die deutschen Unternehmen den Regierungswechsel positiv sehen. Es bestünde nun eine Chance für Reformen. Allerdings sei auch klar, dass erst die nächste legitim gewählte Regierung die Strukturprobleme angehen könne.

Die nächsten Präsidentschaftswahlen in Brasilien sind Ende 2018. Interimspräsident Temer darf dann nicht antreten, weil ein Gericht ihm wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampffinanzierung das passive Wahlrecht entzogen hat. Es ist nur eine der vielen Absurditäten, die derzeit die brasilianische Politik bestimmen. "Brasilien ist dabei, eine Bananenrepublik zu werden", sagt Paulo Sérgio Pinheiro, brasilianischer Diplomat und Politikprofessor an der Brown University in Providance, USA. Es fällt schwer, ihm zu widersprechen.

Der Autor ist freier Journalist in Brasilien.

Zu den Olympischen Spielen in Brasilien erscheint "Das Parlament" am 25. Juli mit einer Themenausgabe.