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GESCHICHTE : Wer wann wem vertraute

Vertrauensfragen und Misstrauensanträge im Bundestag. Ein Rückblick auf Schlüsselmomente des Parlaments

29.08.2016
2023-08-30T12:30:06.7200Z
6 Min

Es war eine der spannendsten Abstimmungen in der Geschichte des Bundestages: die Entscheidung vom April 1972 über den CDU/CSU-Antrag, Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) das Misstrauen auszusprechen und Unions-Fraktionschef Rainer Barzel (CDU) zu seinem Nachfolger zu wählen.

Damals drohte die sozialliberale Koalition im Streit um die Ostverträge ihre Mehrheit durch Übertritte von SPD- und FDP-Abgeordneten zu verlieren. Als schließlich 249 stimmberechtigten Abgeordneten der Koalition 247 der Opposition gegenüberstanden, griff der CDU-Vorsitzende Barzel erstmals in der Geschichte zum Instrument des konstruktiven Misstrauensvotums, um Brandt abzulösen. Aufgrund entsprechender Zusicherungen setzte die Union darauf, dass auch zwei FDP-Abgeordnete dem Misstrauensantrag zustimmen und so zur erforderlichen Mehrheit von 249 Stimmen verhelfen. Um 10 Uhr eröffnete Altkanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) am 27. April im Parlament die Redeschlacht, warnte vor einer Gefährdung "der Wiederherstellung der Einheit des deutschen Volkes" durch die neue Ostpolitik. Im Gegenzug hielt Außenminister Walter Scheel (FDP) der Union vor, sie wolle "eine Veränderung politischer Mehrheitsverhältnisse ohne Wählerentscheid".

Kurz vor 12 Uhr machte sich das Gefühl breit, dass Barzel den Sieg in der Tasche hat, wie am nächsten Tag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu lesen war: "Die Zahl 248, die mancher CDU-Mann zuvor mit vor zaghafter Hoffnung traurigen Augen nur auszusprechen wagte, wurde jetzt mit stolzer Geste dahingewischt: 250, 251, das waren jetzt die Gebote"; prominente SPD-Politiker "äußerten Ergrimmtes darüber, dass zwei, drei (...) Abgeordneten-Gestalten ihnen ihre schöne Regierung nun kaputt gemacht hätten". Dann Abstimmung, Auszählung: "Plötzlich unbeschreiblicher Jubel, Umarmungen. Manche reiben sich die Augen, wollen nicht glauben, dass sich der Freudenausbruch bei der eben noch totgesagten Koalition abspielt. (...) Barzel sitzt still, ganz still zwischen seinen Freunden." 247 Abgeordnete stimmten für den Antrag, zwei Stimmen fehlten Barzel, Brandt blieb Kanzler.

Später gab der CDU-Mann Julius Steiner an, er habe für Brandt gestimmt und dafür 50.000 D-Mark vom Parlamentarischen SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand erhalten - was dieser bestritt. In den 1990er Jahren dann enthüllte Ex-DDR-Spionagechef Markus Wolf, dass Steiner 50.000 D-Mark von der Stasi erhalten hatte - über deren Kanzleramtsspion Günter Guillaume dann Willy Brandt 1974 stürzte. Erst in diesem Jahrhundert schließlich erhärtete sich der Verdacht, dass auch der seinerzeitige CSU-Abgeordnete Leo Wagner von der Stasi bestochen worden war.

Zwei Instrumente Das Misstrauensvotum, das die Verfassung dem Parlament ermöglicht, ist "konstruktiv", weil der Bundestag laut Grundgesetz-Artikel 67 "dem Bundeskanzler das Misstrauen nur dadurch aussprechen (kann), dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt". Das soll vermeiden, dass der Staat in einer Krise ohne handlungsfähige Regierung ist. Der Stärkung der Regierung soll auch der Artikel 68 zur Vertrauensfrage dienen. Danach kann der Bundespräsident den Bundestag auf Vorschlag des Kanzlers auflösen, wenn dessen Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, im Parlament keine Mehrheit findet.

Zwei Mal wurde bislang ein konstruktives Misstrauensvotum beantragt; fünf Mal stellten Kanzler die Vertrauensfrage. Eigentlich als Disziplinierungsinstrument des Kanzlers gedacht, um in schwierigen Situationen die eigenen Reihen zu schließen und Abweichler hinter sich zu zwingen, wurde die Vertrauensfrage in drei der fünf Fälle als Vehikel genutzt, um durch eine willentliche Niederlage eine Auflösung des Bundestages und Neuwahlen zu erreichen.

Patt im Bundestag Den Anfang machte Brandt. Nach dem versuchten Misstrauensvotum lehnte der Bundestag seinen Etat mit 247 zu 247 Stimmen ab: ein Patt zwischen Koalition und Opposition. Als Brandt am 20. September 1972 im Bundestag seine Vertrauensfrage begründete, räumte er ein, dass der Artikel 68 "an sich anderen verfassungspolitischen Zielen dienen" sollte. Dennoch habe er diesen Weg gewählt, weil das Grundgesetz "weder die Selbstauflösung des Parlaments noch die Auflösung durch die Regierung kennt". Zwei Tage später fand sein Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, wie gewünscht keine Mehrheit - Brandt hatte angekündigt, dass seine Minister nicht an der Abstimmung teilnehmen. Die Neuwahl bescherte der SPD ihr bislang bestes Wahlergebnis und Brandts zweite Kanzlerschaft.

Hatten sowohl Misstrauensvotum wie Vertrauensfrage 1972 ihre Premiere, kam es 1982 gleich drei Mal zu ihrer Anwendung. Der - auch innerparteiliche - Streit um den von Brandt-Nachfolger Helmut Schmidt (SPD) initiierten Nato-Doppelbeschluss sowie um die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ließ die sozialliberale Koalition zunehmend erodieren. Daher stellte der Kanzler die Vertrauensfrage, um, wie er im Bundestag am 5. Februar 1982 sagte, "ein Signal der Klarheit zu geben". Mit Erfolg, wie es schien: Alle Koalitionsabgeordneten sprachen ihm ihr Vertrauen aus.

Kanzlersturz Die Koalition war trotzdem am Ende. Am 17. September traten die vier FDP-Minister zurück, am 20. September einigten sich die Spitzen von Union und FDP, Schmidt am 1. Oktober per konstruktivem Misstrauensvotum durch CDU-Chef Helmut Kohl zu ersetzen und Neuwahlen am 6. März 1983 anzustreben. Durch die FDP ging ein tiefer Riss: Bei einer Probeabstimmung votierten 34 ihrer Abgeordneten für und 18 gegen Kohl. Im Bundestag warf Schmidt der FDP-Spitze einen "Vertrauensbruch" vor und die Liberale Hildegard Hamm-Brücher warnte, dass "der Weg über das Misstrauensvotum zwar neue Mehrheiten, aber kein neues Vertrauen in diese Mehrheiten schafft". Am Ende stimmten 256 von 495 Abgeordneten für den Antrag von Union und FDP: Kohl war Kanzler.

Er bekräftigte in seiner Regierungserklärung Mitte Oktober, dass es im März Neuwahlen geben sollte, und stellte zwei Monate danach die Vertrauensfrage mit dem Ziel der absichtlichen Niederlage und Auflösung des Bundestages. Nachdem die neue Koalition "das Dringendste getan" habe, sei es "geboten, sich dem Votum des Wählers zu stellen", argumentierte er am 17. Dezember in der Debatte über die Vertrauensfrage und zeigte sich überzeugt, "dass der von mir eingeschlagene Weg im Einklang mit dem Grundgesetz steht". Das sahen nicht alle so. Zwar "verlor" Kohl die Vertrauensfrage und Bundespräsident Karl Carstens folgte seinem Vorschlag, den Bundestag neu zu wählen, doch landete die Sache beim Bundesverfassungsgericht. Gegen Carstens' Anordnungen gab es eine Verfassungsbeschwerde, Abgeordnete reichten Organklage ein, doch die Richter wiesen diese Vorstöße zurück. Am 6. März 1983 bestätigten die Wähler Kohls Koalition.

Neue Zerreißprobe Nach seiner 18-jährigen Kanzlerschaft kam 1998 Rot-Grün mit Gerhard Schröder (SPD) als Regierungschef. Der stellte seine Koalition 2001 vor eine Zerreißprobe, als er nach den Anschlägen vom 11. September die Abstimmung über den Anti-Terror-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verband. Er wollte so eine eigene Mehrheit für den von der Opposition befürworteten, in der Koalition selbst aber heftig umstrittenen Einsatz erzwingen. Zuvor hatten bereits acht Grünen-Abgeordnete den Einsatz abgelehnt, auch von Neinsagern der SPD war zu lesen, andere legten sich nicht fest. Durch die Verknüpfung mit der Vertrauensfrage ging es nun aber auch um den Bestand der rot-grünen Bundesregierung. 341 Stimmen hatte die Koalition; um ihr Ende abzuwenden, mussten mindestens 334 zustimmen - ein enormer Druck auf jene, die Rot-Grün wollten, aber nicht den Einsatz. Einen Tag vor der Abstimmung am 16. November trat Christa Lörcher aus der SPD-Fraktion aus, eine der Neinsagerinnen. Schließlich rettete eine Absprache der acht Grünen die Koalition: Vier stimmten mit Nein, vier mit Ja. 336 Stimmen bekam Schröder so zusammen, und FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt lästerte in der Aussprache, wie folgsam die Grünen nach Anwendung dieses "pädagogischen Rohrstocks" seien.

Aus für Rot-Grün Am Ende besiegelte dann doch eine Vertrauensfrage - die bislang letzte - das Aus für Rot-Grün. Als nach den Hartz-IV-Reformen im Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen auch die damals letzte rot-grüne Landesregierung abgewählt wurde, ließ Schröder verkünden, vorzeitige Bundestagswahlen anzustreben. Dazu folgte er dem Beispiel von Brandt und Kohl und stellte die Vertrauensfrage mit der erklärten Absicht, keine Mehrheit zu erhalten - eine "fingierte" Vertrauensfrage, schimpfte Werner Schulz (Grüne) in der Aussprache am 1. Juli. Zwar hätten die Grünen, wie ihr Außenamtschef Joschka Fischer deutlich machte, die Wahlperiode gerne bis zum regulären Ende 2006 fortgeführt, doch enthielten sich letztlich 148 Koalitionsabgeordnete bei der Abstimmung, und auf Schröders Vorschlag hin löste Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag auf. Eine Organklage von Schulz und der SPD-Abgeordneten Jelena Hoffmann scheiterte vor dem Verfassungsgericht, Schröder dagegen bei der vorgezogenen Bundestagswahl vom 18. September 2005, die die Union knapp vor der SPD gewann und mit ihr eine Große Koalition bildete - mit Angela Merkel (CDU) als neuer Kanzlerin.