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Nudging : Mach doch, was ich will

Sanfte Stupser sollen Bürger in die richtige Richtung lenken

29.08.2016
2023-08-30T12:30:06.7200Z
4 Min

Für Eltern, die ihren Nachwuchs vor lauter Internet-Konsum an Frischluft-Mangel leiden sahen, ist das Smartphone-Spiel Pokémon Go ein Segen: Wie durch Zauberhand leitet die digitale Jagd auf kleine Monster, die via Smartphone-Bildschirm in der echten Welt zu finden sind, an die frische Luft.

Für Datenschützer, die den selbstbestimmten Konsumenten predigen, ist Pokémon Go das nackte Grausen: Wie die Lemminge lenkt das Spiel die Jäger der digitalen Monster in all jenen Geschäfte, die vorher dafür bezahlt haben, dass in ihren Räumen kleine Monster zu finden sind. Aus digitalen Jägern werden reale Konsumenten; willenlos angezogen durch den Sog des digitalen Reizes.

So einen Stups, wie ihn Pokémon Go derzeit hunderten Millionen Spielern gibt, kann eben immer in zwei Richtungen wirken: eine richtige und eine weniger richtige. Und deshalb ist der Stups ("Nudge") genannte Anreiz, Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken, nicht nur ein Pokemon-Phänomen, sondern auch ein gleichermaßen wirkungsmächtiges wie umstrittenes Instrument von Verhaltensökonomen und Regierenden. Im Bundeskanzleramt etwa arbeitet seit eineinhalb Jahren eine Nudging-Einheit: Verhaltensökonomen sollen Wege finden, wie die Regierung durch das Setzen richtiger Anreize statt harter Verboten den Menschen ein "gutes Leben" bescheren kann. Wie Pokémon-Jünger ans richtige Ziel sollen Bürger so zum richtigen Verhalten gelotst werden. Ganz sanft, scheinbar freiwillig. Nur, erfüllt das Nudging diese Ansprüche?

Leitplanken Bruno Frey, Verhaltensökonom, emeritierter Professor der Universität Zürich und überzeugter Liberaler, sagt: "Ich glaube nicht, dass Regierungen ihre Bürger direkt zum Glück führen sollten. Sie sollten eher die Möglichkeiten schaffen, dass die Bürger glücklich werden könnten." Er nennt zwei Prämissen: eine dezentrale Steuerung des Landes; und staatliche Leitplanken, die immaterielle Freuden den materiellen vorziehen. Erstere zielt darauf ab, dass der Mensch glücklicher ist, wenn er das Gefühl hat, Dinge in seinem unmittelbaren Einzugsbereich selbstbestimmt regeln zu können. Zweitens: Glück ist relativ, weswegen materieller Zugewinn nur bedingt glücksfördernd ist. Frey hat das am Beispiel der Pendler erforscht: Menschen träumen vom Haus im Grünen. Die Glücksökonomie aber zeigt: Arbeitnehmer werden mit steigender Pendel-Zeit unglücklicher, ihnen fehlt Zeit für Freunde, Freizeit. Dabei wird das Pendeln auch noch steuerlich gefördert. "Das abzuschaffen", sagt Frey, "wäre eine dieser Leitplanken, wie Politik indirekt für Glück sorgen kann." Es wäre ein Stupser, in die Stadt zu ziehen, aber eben kein Zwang.

Wer Stupser statt Zwang anwenden will, beruft sich meistens auf den Psychologie-Nobelpreisträger Daniel Kahneman. Auf dessen Ideen basiert Nudging-Politik. "Die Entscheidungen, die Menschen für sich selber treffen, lassen sich durchaus zutreffend als Fehlentscheidungen bezeichnen", schreibt Kahneman in seinem Bestseller "Schnelles Denken, langsames Denken". Zwei unterschiedliche kognitive Systeme würden Entscheidungen von Menschen steuern. System 1 ist unser Autopilot: das impulsive, emotionale, spontane Selbst. Es arbeitet schnell und intuitiv. System 2 ist das abwägende, planerische, kontrollierende Ich. In der Regel sind beide Systeme gleichzeitig aktiv, aber manchmal ist System 1 schneller. Die Konsequenz: Selbsttäuschung und Denkfehler. Da sollen Stupser helfen.

Das beliebteste Beispiel für die Wirksamkeit der Stups-Strategie: die Fliege im Männerpissoir. 1999 wurden am Flughafen Amsterdam Fliegenmotive in die Urinale der Herrentoilette geklebt. System 1 im Mann uriniert gerne auf ein Ziel, so die Annahme. Und tatsächlich: Die Verschmutzung auf dem Boden sei anschließend um 80 Prozent gesunken, berichten Cass Sunstein und Richard Thaler in ihrem Buch "Nudge".

Ist das nun moderne Führung statt obrigkeitsstaatlicher Law-and-Order-Politik alter Prägung - oder der Eintritt in den Nanny-Staat, der seine Bürger nicht mehr offen drangsaliert, dafür aber hinterhältig manipuliert? Vor allem liberale Ökonomen und Verhaltensforscher gehen davon aus, dass Denkfehler durch Training abstellbar seien - es also keiner verdeckten Operationen des Staates bedürfte. Insbesondere der deutsche Bildungsforscher Gerd Gigerenzer gehört zu den Kritikern. Laut ihm sind die sanften Stupser weit weniger erfolgreich als angenommen. So berichteten Manager des Amsterdamer Flughafens nach Cass' Veröffentlichung, die Verschmutzung der Herrentoiletten sei nach kurzer Zeit wieder fast auf altem Niveau gewesen.

In der Bundespolitik bemüht man sich um einen Balanceakt: Zwar sagen alle in Berlin: "Politik ist nicht für individuelles Glück zuständig." Niemand möchte mehr eine Veggie-Day-Debatte wie im letzten Wahlkampf, als die Grünen einen fleischlosen Tag für Kantinen diskutierten. Ganz aufgeben möchte man den Ansatz aber nicht. Schon allein, weil das "Gute Leben" ohne sanfte Stupser kaum zu erreichen ist. Sven Prange

Der Autor ist Mitglied der Chefredaktion der "Wirtschaftswoche".