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PLEBISZIT : Votum des Volkes

Viele Volksbegehren belegen den Gestaltungsanspruch der Bürger. Auf Bundesebene bleibt die Einführung von Referenden gleichwohl umstritten

29.08.2016
2023-08-30T12:30:06.7200Z
6 Min

Für die Verfechter der direkten Demokratie war der 23. Juni 2016 kein guter Tag. Mit knapper Mehrheit entschieden sich die Briten in einem Referendum dafür, die Europäische Union zu verlassen. Die Gegner von Volksentscheiden in Deutschland fühlten sich bestätigt.

Die vier Mütter und 61 Väter des Grundgesetzes haben sich 1948/49 im Parlamentarischen Rat für eine starke repräsentative Demokratie entschieden. Der Artikel 20, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von diesem "in Wahlen und Abstimmungen durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" wird, ist Ausdruck dessen. Die direkte Mitwirkung der Bürger ist nur für zwei Fälle vorgesehen. So muss eine Neugliederung des Bundesgebietes durch einen Volksentscheid bestätigt werden. Der Artikel 29 fand zweimal Anwendung, im Fall Baden-Württemberg 1951 mit Erfolg, bei Berlin und Brandenburg 1996 dagegen nicht. Schließlich legt Artikel 146 fest, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn das Volk eine neue Verfassung beschließt.

Erfolglose Vorstöße Versuche, dem Volk im Bund mehr Mitsprache einzuräumen, gab es viele. SPD, Grüne, Linke und FDP versuchten seit 1992 mehrfach erfolglos, das Grundgesetz für Plebiszite zu öffnen. Auch die CSU gehört im Gegensatz zur CDU zu den Befürwortern. Im Bundestag gäbe es wohl eine Mehrheit für mehr Volksentscheide im Bund, aber keine Zwei-Drittel-Majorität für eine Änderung des Grundgesetzes.

Nach dem Brexit-Votum wagte CSU-Chef Horst Seehofer einen neuen Vorstoß. Er bezeichnete Referenden als "Kern moderner Politik". Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hingegen hält sie für ein Mittel von Politikern, schwierige Entscheidungen auf die Bürger abzuwälzen, als Versuch von Minderheiten, Einzelinteressen durchzusetzen, und als Plattform für Vereinfacher. Nach dem Brexit glaubt Lammert, einen Ernüchterungsprozess bei den Befürwortern von Volksentscheiden im Bund zu erkennen. "Zweifel an der behaupteten größeren demokratischen Legitimation von Plebisziten sind also angebracht", sagte Lammert Anfang Juli der "Welt am Sonntag". Tatsächlich äußerten sich Politiker von SPD und Grünen nach dem Briten-Votum zurückhaltend. Grundsätzlich sollten Volksentscheide möglich sein, seien aber derzeit nicht aktuell, lautete der Tenor.

In Bundespräsident Joachim Gauck fand Lammert prominente Unterstützung. Früher sei er ein Anhänger von Volksentscheiden gewesen, sagte das Staatsoberhaupt im Sommer der "Bild"-Zeitung. Heute sehe er die Dinge differenzierter. Bei vielen Themen reichten einfache Antworten wie Ja oder Nein nicht aus. "Oft müssen schwierige Kompromisse gefunden werden, die mit Volksentscheiden nicht möglich sind", befand Gauck. Den Bürgern fehle bei komplexen Fragen der Sachverstand und die emotionale Distanz, argumentieren die Skeptiker von Volksentscheiden weiter. Basisdemokratische Abstimmungen seien missbrauchsanfällig durch Populisten und schwächten Parlamente sowie Parteien, denen das Grundgesetz eine wesentliche Rolle bei der "politischen Willensbildung des Volkes" beimisst.

Doch auch die Befürworter führen gewichtige Argumente ins Feld. Sie kritisieren, dass die Bürger für vier bis fünf Jahre von der politischen Mitbestimmung ausgenommen sind. Die Wahl eines Politikers in ein Parlament ist ein auf Jahre angelegter Vertrauensvorschuss. Die Anhänger von Plebisziten setzen ferner darauf, dass so Lobbyismus eingedämmt und Blockaden zwischen Bundestag und Bundesrat umgangen werden können. Schließlich könnten die Initiativen an sich schon ein Umdenken oder Einlenken in der Politik bewirken, wenn sie sich einem ein Thema stellen muss.

Die Erfahrungen mit deutschlandweiten Volksentscheiden sind rar. Die Weimarer Reichsverfassung ermöglichte die direkte Einflussnahme der Bürger auf die Gesetzgebung. Drei erfolglose Anläufe für Volksentscheide gab es. Die KPD scheiterte 1926 und 1928 mit Initiativen zur Enteignung der 1918 entmachteten Fürsten und gegen den Panzerkreuzerbau. Erfolglos waren 1929 zudem rechte Parteien mit dem Volksentscheid gegen den Young-Plan, der Deutschland auf Basis des Versailler Vertrages Reparationen auferlegte.

Neue Balance Die ernüchternde Bilanz der Macht des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der mit Notverordnungen die Grundlagen der Weimarer Republik aushöhlte, führte dazu, dass im Grundgesetz eine neue Balance aus einem starken Parlament und einem weitgehend auf Repräsentationspflichten beschränkten Bundespräsidenten etabliert wurde. Das müssen auch jene bedenken, die sich für die Direktwahl des Staatsoberhauptes stark machen. Wollte man es direkt wählen, was 70 Prozent der Bürger befürworten, müsste es wohl auch mehr Kompetenzen erhalten.

Auf Landes- und kommunaler Ebene sind dagegen Volksabstimmungen gang und gäbe. Nach Angaben des Vereins "Mehr Demokratie" gab es in den Bundesländern bislang 25 obligatorische Referenden und 316 Anträge auf Volksbegehren. Sie führten in 91 Fällen zum Volksbegehren als zweiter Stufe und zu 23 Volksentscheiden. Die meisten gab es Hamburg mit sieben, Berlin mit sechs und Bayern mit fünf Abstimmungen. Im Volksbegehrensbericht 2015 bescheinigt der Verein den Ländern deutliche Reformbemühungen, die aber unterschiedlich ausfielen. In einer Rangliste bekam nur Hamburg ein "gut", Bremen und Bayern ein "befriedigend", zehn Länder wurden mit "ausreichend" und drei mit "mangelhaft" bewertet. Schlusslicht war Baden-Württemberg, der Landtag hat aber im November die Hürden für Volksabstimmungen gesenkt.

Aktuell laufen 16 Verfahren in acht Bundesländern. In Mecklenburg-Vorpommern sind gleich sechs und in Berlin vier Vorstöße am Start. Die Hauptstadt zeigt auch, dass die Bürgerbegehren an sich schon die Politik zum Handeln zwingen kann. So wurde im Februar ein Volksentscheid zu bezahlbarem Wohnraum abgeblasen, nachdem der Berliner Senat eine Reihe von Forderungen des Bündnisses in ein neues Mietengesetz aufnahm. In Hamburg war eine Initiative gegen Großunterkünfte für Flüchtlinge vom Tisch, nachdem der dortige Senat einlenkte.

Als wirkungslos hat sich dagegen die Europäische Bürgerinitiative (EBI) erwiesen. Seit dem Vertrag von Lissabon können Unions-Bürger verlangen, dass sich die EU-Kommission mit einem Thema befasst, wenn dies eine Million Unterstützer aus einem Viertel der EU-Länder wollen. Allein im Mai 2012, dem Monat nach Inkraftsetzung des Vertrages, starteten neun Initiativen, 55 waren es bis heute. Nur drei - zum Stopp von Tierversuchen, zur Förderung der Stammzellforschung und gegen die Privatisierung der Wasserversorgung - bekamen genug Unterschriften, umgesetzt wurde keine. 3,3 Millionen Unterstützer fand eine 2014 gestartete Initiative gegen die Freihandelsverträge TTIP und CETA. Allerdings lehnte die EU-Kommission schon die Registrierung der Initiative ab. Die EBI gilt als zu bürokratisch und ist nicht mehr als ein Appell in Richtung Brüssel.

Gestaltungswillen Die lokalen und landesweiten Volksbegehren belegen, dass sich viele Bürger nicht von einem Gestaltungsanspruch verabschieden, nur weil das Vertrauen in die Parteien schwindet. Die vielzitierte Politikverdrossenheit, schon 1992 zum Wort des Jahres erkoren, ist in Teilen eher eine Parteienverdrossenheit. Die Bindungskraft der Parteien hat gelitten, seit 1990 hat sich der Anteil ihrer Mitglieder an der Bevölkerung auf 1,8 Prozent halbiert. Der Parteienforscher Oskar Niedermayer sprach schon 2008 statt von Volksparteien von einem fluiden Fünfparteiensystem, wobei sich 2016 die Frage stellt, ob die AfD dauerhaft als sechste Partei hinzukommt.

Mit der Demokratie sind die Deutschen eigentlich zufrieden, immer weniger aber mit der Politik. Das zeigen auch gesunkene Wahlbeteiligungen. Bei den Bundestagswahlen 2013 und 2009 lag sie nur noch leicht über 70 Prozent, bei Landtagswahlen schwankte sie zuletzt zwischen 48 und 73 Prozent. An Kommunal- und Europawahlen beteiligt sich oft nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten. Vor allem für Menschen mit wenig Bildung und sozial Schwächere ist das Wählen oft keine Bürgerpflicht, von einer "sozial gespaltenen Demokratie" sprach die Bertelsmann Stiftung schon 2013. Offenbar ist die Kommunikation gestört, vor allem zwischen den Politikern und den Menschen, die nicht zu den Eliten zählen.

Als sich die Generalsekretäre und Bundesgeschäftsführer der Bundestagsparteien im April trafen, war man sich erstaunlich einig, dass es Veränderungs- und Öffnungsbedarf gibt, etwa durch mehr Onlinepartizipation, Mitgliederentscheide und basisdemokratische Spitzenkandidatenwahlen. Zunächst könnten die Parteien bei sich selbst beginnen, mehr Basisdemokratie zu wagen.

Der Autor ist freier Journalist in Berlin.