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CHEMNITZ : Das Image-Problem

Die Stadt wächst und hat einiges zu bieten

04.10.2016
2023-08-30T12:30:08.7200Z
4 Min

Frank Heinrich lebt seit 1997 in Chemnitz - mit Begeisterung. Der CDU-Bundestagsabgeordnete kann mühelos eine halbe Stunde darüber erzählen, was ihn an seiner Heimatstadt fasziniert und wie großartig er die Entwicklung findet, die sie in den letzten beiden Jahrzehnten genommen hat. Nur: "Einen Chemnitzer zu finden, der wirklich stolz auf Chemnitz ist, das ist immer noch schwer", sagt er.

Damit hat Heinrich das Dilemma seiner Stadt auf den Punkt gebracht. Denn eigentlich steht Chemnitz super da: Aus der grauen Industriestadt, die noch mehr als andere ostdeutsche Städte nach der Wende mit dem Zusammenbruch ihrer Industrie und dem Weggang großer Bevölkerungsteile zu kämpfen hatte, ist eine wieder wachsende Stadt geworden. Heimat von fast 250.000 Menschen. Sie hat wunderschön sanierte Wohnungen in einem der besterhaltenen Gründerzeitviertel Europas, dem Kaßberg, zu bieten, ein beachtetes Theater und hochgelobte Museen, faszinierende Industriebauten künden vom wirtschaftlichen Erfolg früherer Zeiten. Außerdem, so Heinrich: "Es gibt in Chemnitz unzählige kleine und mittlere Unternehmen, die Weltmeister in dem sind, was sie tun. Und wir als Stadt haben allein zehn Olympia-Teilnehmer nach Rio geschickt. Das muss uns erstmal jemand nachmachen." Dennoch leidet Chemnitz an einem schlechten Image - und einer besonderen Mentalität seiner Einwohner.

Minderwertigkeitskomplexe Schon immer hatte das "sächsische Manchester", das von 1953 bis 1990 Karl-Marx-Stadt hieß und wo fast die Hälfte der in der DDR hergestellten Textilmaschinen und ein Drittel der Werkzeugmaschinen entstanden, Minderwertigkeitskomplexe gegenüber seinen großen Stadtschwestern Leipzig und Dresden. Nicht umsonst lautet ein sächsischer Spruch, in Chemnitz werde das Geld erarbeitet, in Leipzig werde es vermehrt und in Dresden ausgegeben. Auch Detlef Müller, SPD-Bundestagsabgeordneter und gebürtiger Chemnitzer, kennt dieses Unterlegenheitsgefühl seiner Stadt. "Man macht sich da viel zu oft viel zu klein", sagt er, "aber der Chemnitzer ist halt so. Immer, wenn etwas Neues entstehen soll, fragt er erstmal: ,Brauchen wir das überhaupt? Und was kostet das?' Und wenn es dann funktioniert hat, freut man sich eher leise." Dass es der Stadt gelungen sei, viele der bisher rund 3.500 Flüchtlinge dezentral in Wohnungen unterzubringen und der Pegida-Ableger Cegida mit seinen Demonstrationen nur Wenige mobilisieren konnte, das sei quasi unter dem Radar geschehen. "Da hat man einfach gemacht und nicht ewig diskutiert", so Müller.

Chemnitz ist häufig zu leise, um gehört zu werden. Umso lauter sind die, die Schlechtes verkünden: Stadtportraits, die Chemnitz die Aura von Tschernobyl oder Nordkorea bescheinigten, taten das Ihrige um das Vorurteil zu zementieren: Hier lässt sich nicht gut leben, hier ist der Aufbau Ost gescheitert.

Dabei gibt es wahnsinnig viel, das funktioniert, das die Stadt prosperieren und die Arbeitslosenquote auf aktuell acht Prozent sinken lässt: Maschinenbauer wie Niles Simmons und Starrag, das Volkswagen-Motorenwerk und die Union Werkzeugmaschinen GmbH sorgen für stabile Jobs. Rund um die Technische Universität mit ihren etwa 11.600 Studenten ist ein ganzes Kompetenzzentrum für Mikrosystemtechnik entstanden: Auf dem "Smart Systems Campus" direkt neben Uni und Forschungseinrichtungen können sich Start-up-Unternehmen ansiedeln. "Das ist ein richtig gut funktionierendes Gründungslabor", erzählt Detlef Müller, "die Firmen beginnen hier und gehen, wenn sie etwa zwei Jahre alt sind und sieben bis zehn Mitarbeiter beschäftigen, wieder raus und siedeln sich in der Stadt an."

All das zieht vor allem junge Menschen an - und deshalb wächst die Stadt seit einigen Jahren wieder. Wer heute in Chemnitz unterwegs ist, sieht jede Menge Baukräne; es entstehen Wohnungen, Kindergärten und Schulen. "Die Zeit des großen Stadtumbaus und Abbruchs ist definitiv vorbei", sagt Börries Butenop, Leiter des Stadtplanungsamts, "wir erleben ein kleines, aber beständiges Wachstum."

Chemnitz hat sein Gesicht einmal mehr gravierend verändert. Wurde die Stadt im 19. Jahrhundert zu einer der wichtigsten deutschen Industriestädte, mit rauchenden Schornsteinen und viel Dreck, zog das Bürgertum im 20. Jahrhundert viele Künstler an und es entstanden repräsentative Bauten für kulturelle Einrichtungen. Die Luftangriffe im Februar 1945 zerstörten nahezu die komplette Innenstadt. Das sozialistische Wiederaufbauprogramm in den 1950er und 1960er Jahren machte aus Chemnitz eine Stadt ohne Zentrum - bescherte ihr aber ein Alleinstellungsmerkmal, von dem das Stadtmarketing bis heute zehrt: das riesige Karl-Marx-Monument, von den Einheimischen "Nischel" genannt. Nach der Wende wurden viele leerstehende Gebäude abgerissen.

Neues Selbstbewusstsein Nun also wieder Wachstum. Und vielleicht auch neues Selbstbewusstsein: Gerade hat die Stadt beschlossen, sich um den prestigeträchtigen Titel der europäischen "Kulturhauptstadt" zu bewerben. Man könnte der Welt dann all das zeigen, was allgemein so wenig wahrgenommen wird. Betrachtet man den Drive, den andere Bewerber-Städte mit ihren Konzepten zur Stadtentwicklung genommen haben, könne auch Chemnitz das Verfahren nur gut tun, heißt es aus dem Rathaus. Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig zeigte sich optimistisch: "Wenn es bewirkt, dass man nicht mehr erklären muss, wo Chemnitz liegt oder dass man sich entschuldigen muss, aus Chemnitz zu kommen - dann ist die Bewerbung die Mühe wert!"

Die Autorin ist freie Journalistin in Dresden.